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Maja Göpel — wie man eine Zukunft baut

17.3.2024

Maja Göpel ist nicht nur die wohl bekannteste Zukunftsforscherin Deutschlands, sie ist auch eine anregende Gesprächspartnerin und Analystin. Die Energiewende und die Stärkung der Demokratie sind Themen, die sie besonders umtreiben. Wir sprechen über Klima, Superreiche, wie Demokratien ticken und was nötig ist, um für eine sinnvolle, lebenswerte Zukunft zu arbeiten.

Der Zusammenbruch des liberalen Projekts? Teil 2

31.12.2023

Ist die Polykrise eine Nebenwirkung des Fortschritts und eines siegreichen Liberalismus? Der Sieg der liberalen Welt transformierte das Leben auf diesem Planeten innerhalb kürzester Zeit auf dramatische Weise. Dabei sind viele der liberalen Grundideen zur Unkenntlichkeit verzerrt worden. Ist das liberale Projekt also Opfer seines eigenen Erfolgs und, wenn ja, ist es damit zum Scheitern verdammt?

Der Zusammenbruch des liberalen Projekts? Teil 1

24.12.2023

Vor ziemlich genau einer Generation verkündete der triumphierende Westen den Sieg der liberalen Welt des liberalen Projekts. Von nun an würde es nur noch ein Modell für Gesellschaften geben: liberale Demokratien in einem globalen Markt. Es ist ganz anders gekommen. Die Welt steckt in einer Polykrise und heute kämpfen die Kernideen des liberalen Projekts — individuelle Freiheiten, Toleranz, progressive Ideale — um ihr politisches Überleben. Wie ist es so weit gekommen?

Philipp Blom, trägt die Bibel Mitschuld am Klimawandel? | Sternstunde Religion | SRF Kultur

13.12.2022

«Macht euch die Erde untertan». Diesen Satz legten die biblischen Autorinnen und Autoren der Genesis Gott in den Mund. Und die Menschen nahmen den Auftrag an. Im Zuge dessen habe der Mensch nicht nur gesät und geerntet, sondern die Erde regelrecht ausgebeutet, gar vergewaltigt, sagt der deutsche Historiker und Schriftsteller Philipp Blom.


Die Unterwerfungsideologie sei längst Teil des Gewebes der Gesellschaft geworden. Zwar hat die Bibel diese Idee nicht erfunden, aber sie diente nicht zuletzt den europäischen Kolonialistinnen und Kolonialisten als Leitfaden, die Welt zu erobern. Eine Idee, die die Menschheit schliesslich an den Abgrund führte. Wann also hört das auf?


Bloms Fazit: Wenn der Homo Sapiens endlich einsieht, dass er ein Primat ist, der sich selbst hoffnungslos überschätzt. Denn eigentlich sei er kein besonders wichtiger Organismus für diesen Planeten und stehe nicht ausserhalb der Natur, sondern sei Teil von ihr. Der Vielschreiber Blom fordert deshalb eine neue Erzählung: eine, die nicht darauf beruht, dass der Mensch über allem steht, sondern sich als kleinen Teil eines grossen Organismus versteht und auch danach handelt.


In einem christlichen Haushalt aufgewachsen, hat Philipp Blom später eine Heimat im aufklärerischen Denken Diderots gefunden und sich mit 20 bewusst von der Religion distanziert. Ein Gespräch über die Erhaltung des Planeten, die Macht von Erzählungen, und warum sich die Menschen wie 5-Jährige verhalten, denen ein Jumbo-Jet überantwortet wurde.


Sternstunde Religion vom 11.12.2022.

Sendungsverantwortliche:

Regie: Stephan Brülhart, Redaktion: Claudia Zeltner, Produzent: Christian Walther, Leitung: Judith Hardegger, SRF 2022

Philipp Blom: "Der taumelnde Kontinent" (1900-1914)

17.1.2014

In seinem Bestseller "Der taumelnde Kontinent" beschreibt der Historiker Philipp Blom die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg als eine voller radikaler Veränderungen und großer Umbrüche. 2014 jährt sich der Ausbruch des Ersten Weltkriegs zum 100. Mal. Regisseur Robert Neumüller nahm dies zum Anlass, das Buch gemeinsam mit Blom als TV-Dokumentation zu verfilmen.

Wie die Bilder einander gleichen: Menschenmassen, Hektik, Verkehrsstaus - was uns heute nervt, war vor 100 Jahren aufregend neu. Autorennen, Flugzeuge, permanente Kommunikation - was unser heutiges Leben bestimmt, hat um 1900 begonnen. Die Welt von gestern ist die Welt von heute - so die zentrale These von Philipp Bloms Sachbuchs "Der taumelnde Kontinent". Robert Neumüller hat für seine Verfilmung des Buches bemerkenswerte Archivbilder aus ganz Europa zusammengetragen.

oekostrom AG am Campus #5: Wie wir mit Klima-Fakten umgehen sollten

15.9.2023

Dystopie oder realistisches Szenario? Wie wir mit Klima-Fakten umgehen sollten

Moderation: Philipp Blom, Historiker & Klimaphilosoph

Gäste: Marc Elsberg, Bestsellerautor u. a. „Celsius“ und „Blackout“, Lydia Matzka-Saboi, Redakteurin Klima & Umwelt bei der Tageszeitung Heute, Florian Aigner, Physiker, Autor und Wissenschaftspublizist.

Die Faktenlage ist klar: Es bleibt uns nicht mehr viel Zeit, die Klimakrise einzudämmen und das 1,5 Grad-Ziel einzuhalten. Es ist genügend Wissen verfügbar – auch aufbereitet für verschiedene Zielgruppen und Gesellschaftsschichten. Jede:r hat Zugang zu den Daten und Fakten der Klimakrise. Warum sind sie trotzdem noch nicht bei allen angekommen? Stichwort kognitive Dissonanz: Wieso ist die Lücke zwischen Wissen und Tun noch immer so groß?

Ist Fiktion die Lösung? Dürfen wir auf Dystopien und Horrorszenarien zurückgreifen, wenn die trockenen Fakten nichts auslösen? Können dystopische Zukunftsszenarien Menschen dazu motivieren, tatsächlich gegen die Klimakrise aktiv zu werden und ins Tun zu kommen? Um entsprechend zu wählen, um Politik und Wirtschaft stärker unter Druck zu setzen?

Schaffen Dystopien was Politik, Wirtschaft, Nachrichten, NGOs und Vereine nicht schaffen? Die Menschen emotional zu berühren und sie so wachzurütteln? Oder führen Dystopien vielmehr zu einer Lähmung und einem verzweifelten Verharren im aktuellen Zustand? Bestärken sie hedonistisches Verhalten im Hier und Jetzt zu leben, kurzfristige und klimaschädliche Entscheidungen zu treffen, da ohnehin keine Zeit mehr bleibt? Oder braucht es nicht viel eher positive Zukunftsbilder, die Hoffnung auf eine lebenswerte Zukunft machen?

In Kooperation mit TU Wien, CEOs FOR FUTURE und PolEdu

Philipp Blom | Philosoph, Historiker & Bestseller-Autor – ERDgespräche 2022

10.5.2022

Philipp Blom | Philosoph, Historiker & Bestseller-Autor bei den

ERDgesprächen 2022, 21. April 2022, Halle E im MQ, Wien

EARTHtalks 2022, April 21st, 2022, Halle E im MQ, Vienna


Die ERDgespäche sind eine Diskussionsveranstaltung, die seit 2008 jährlich in Wien stattfinden. Sie laden NGOs, Unternehmen, öffentliche Institutionen und Interessierte aus der Öffentlichkeit zum Dialog mit den Vortragenden – und nicht zuletzt – zum Dialog miteinander ein.

Philipp Blom | Die Krise der Gegenwart – ist die Welt aus den Fugen? (NZZ Standpunkte 2021)

1.11.2021

Erderwärmung, Corona-Pandemie, Finanzkrisen, politische Disruption und kultureller Identitätsverlust – moderne Zeiten waren schon immer Krisenzeiten. Die Überlagerung multipler Problemherde aber überfordern unsere Gesellschaft zunehmend. Hinzu kommt, dass die Sinn- und Glücksressourcen des Fortschritts erschöpft scheinen: Zukunft bedeutet nicht länger Verheissung, sondern Bedrohung. Wie finden wir den Ausweg aus dieser unerquicklichen Gemengelage?

Mit dem Historiker und Zeitdiagnostiker Philipp Blom spricht NZZ-Chefredaktor Eric Gujer über die Krise der Aufklärung und Wahrheit. Welche Art von Transformation müssen wir schaffen, um zu einem neuen, sanften Umgang mit der Natur zu finden? Und wie kommen wir dahin, ohne auf Freiheit und Wohlstand zu verzichten?

Sendung vom 31.10.2021

Andrea Wulf & Daniel Kehlmann: Als das Ich Erfunden und die Natur Vermessen Wurde

25.11.2022

Andrea Wulf, Daniel Kehlmann, Philipp Blom

Freitag, 25 November 2022, 19:30 CET

Weltmuseum Wien, Säulenhalle, Heldenplatz, 1010 Wien

Anlässlich der Neuerscheinung des Buches Fabelhafte Rebellen: Die Frühen Romantiker und die Erfindung des Ich, das es innerhalb kürzester Zeit unter die Top 3 der Spiegel-Bestsellerliste geschafft hat, lud das Institut für die Wissenschaften vom Menschen zu einem außergewöhnlichen literarischen Gesprächsabend mit der Autorin und Historikerin Andrea Wulf und dem Romancier und Dramatiker Daniel Kehlmann.

Beide Ausnahmeautor:innen traten in der Vergangenheit mit Arbeiten zum Naturforscher Alexander von Humboldt in Erscheinung. Im Jahr 2016 wurde die von Wulf verfasste, in 25 Sprachen übersetzte und mehrfach preisgekrönte Biografie Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur auf Deutsch publiziert. Darin zeigt die Autorin die Relevanz von Humboldts Denken für heute auf, insbesondere die von ihm betonte Wichtigkeit der Erschließung von Wissen über die Verwundbarkeit unseres Planeten. Auch Daniel Kehlmann setzte sich in seinem Roman Die Vermessung der Welt (2005) mit dem Naturwissenschaftler auseinander und verfasste damit eine vielgerühmte fiktionale Doppelbiografie Alexander von Humboldts und des Mathematikers Carl Friedrich Gauß.

Moderiert von Philipp Blom diskutierten die beiden Autor:innen Ansätze der literarischen Annäherung an das Leben und Wirken großer Persönlichkeiten zwischen Fiktion und historischer Aufarbeitung.

Andrea Wulf ist eine mehrfach ausgezeichnete Autorin. Zu ihren Büchern gehören The Founding Gardeners. How the Revolutionary Generation Created an American Eden (Heinemann 2011) sowie Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur (C.Bertelsmann 2016), die beide auf der Bestsellerliste der New York Times vertreten waren. Ihr neues Buch Fabelhafte Rebellen: Die Frühen Romantiker und die Erfindung des Ich (C.Bertelsmann 2022), in dem sie anhand von Memoiren und Briefen die Geistes- und Gefühlsleben der Begründer:innen der deutschen Romantik im Jena der 1790er Jahre ergründet, wurde vielfach kritisch gewürdigt. Zudem werden ihre Texte regelmäßig in The Guardian, The Sunday Times, Wall Street Journal, Financial Times und LA Times veröffentlicht.  Andrea Wulf war 2019 und 2022 Miller Scholar am Santa Fe Institute, dreifache Fellow am International Center for Jefferson Studies in Monticello und 2013 Writer in Residence an der Eccles British Library. Sie ist Mitglied des PEN-American-Center und Fellow des Explorer's Club, der Royal Geographical Society sowie der Royal Society of Literature.

Daniel Kehlmann ist einer der renommiertesten Autoren des deutschsprachigen Raumes und wurde für seine Werke unter anderem mit dem Candide-Preis, dem WELT-Literaturpreis, dem Per-Olov-Enquist-Preis, dem Kleist-Preis, dem Thomas-Mann-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis ausgezeichnet. Zuletzt wurden ihm der Frank-Schirrmacher-Preis, der Schubart-Literaturpreis, der Anton-Wildgans-Preis und 2021 der Elisabeth-Langgässer-Literaturpreis für sein Gesamtwerk verliehen. Sein erster Roman Beerholms Vorstellung erschien im Jahre 1997 (Deuticke Verlag), mit Ich und Kaminski (Suhrkamp 2003) gelang ihm ein internationaler Erfolg. Sein Roman Die Vermessung der Welt wurde zu einem der erfolgreichsten deutschen Romane der Nachkriegszeit und wurde in 40 Sprachen übersetzt. Auch sein Roman Tyll (Rowohlt 2017) stand monatelang auf der Bestsellerliste, schaffte es auf die Shortlist des International Booker Prize 2020, und begeistert Leser im In- und Ausland.

Philipp Blom wuchs in Hamburg und in Detmold, Nordrhein-Westfalen auf. Nach Studien in Wien und Oxford, während denen er auch als Lehrer arbeitete, promovierte er in Geschichte. Während seiner Zeit in Oxford publizierte er den Roman ​„The Simmons Papers“​. Mehrere von Philipp Bloms Büchern sind Bestseller. Seine Werke wurden in 16 Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Groene Waterman Prijs (Antwerpen) und dem Premis Terenci Moix (Barcelona). Sein Buch „Der taumelnde Kontinent“ wurde mit dem NDR Kultur Sachbuchpreis für das beste Sachbuch des Jahres 2009 ausgezeichnet. „Böse Philosophen. Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung“ wurde 2011 mit dem Gleim Preis ausgezeichnet sowie als Historisches Buch des Jahres 2011 gekürt. 2018 hielt Blom die weithin beachtete Eröffnungsrede bei den Salzburger Festspielen.

Eine Veranstaltung in Kooperation mit der Buch Wien

Salzburger Festspiele 2018: Festrede Dr. Philipp Blom

17.8.2018

Philipp Blom, 1970 in Hamburg geboren, studierte Philo­sophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford. Er arbeitete anschließend jahrelang in London und Paris und lebt seit 2006 mit seiner Frau in Wien. Zusätzlich zu seinen Buchprojekten ist er journalistisch tätig, u.a. für Zeitungen und Zeitschriften in Großbritannien (The Guardian, The Inde­ pendent, Financial Times, Times Literary Supplement) und im deutschsprachigen Raum (Die Zeit, Neue Zürcher Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Der Standard). Im österreichischen Kultursender Ö1 moderiert Blom regelmäßig die Diskussionssendung Von Tag zu Tag bzw. deren Nachfolgesendung Punkt eins.

Die Ideen der Aufklärung und ihre Geschichte begleiten sein Werk in Bestsellern wie Das vernünftige Ungeheuer (2005), Der taumelnde Kontinent (2009), Böse Philosophen (2011) bis hin zu Die Welt aus den Angeln und Gefangen im Panoptikum (2017). Seine internationale Tätigkeit als Vor­ tragender, Konsulent und Moderator sowie Bücher wie Was auf dem Spiel steht (2017) bestätigen seine Rolle als einen häufig kontrovers diskutierten Intellektuellen und wachen Denker, der sich der Aufklärung kritisch verpflichtet fühlt.

Philipp Blom erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u.a. ein Stipendium am Getty Research Institute in Los Angeles, den Premis Internacionals Terenci Moix und den deutschen Sach­ buchpreis. Im März 2018 wurde er in den Stiftungsrat des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels berufen.

@ORF; Der Festakt wurde vom ORF aufgezeichnet und am

27. Juli 2018 um 11:05 Uhr live auf ORF2 und 3sat übertragen.

Wir sind nicht die Beherrscher des Universums: tiefes Nachdenken mit Philipp Blom | Doku HD | ARTE

11.9.2023

"Wir lernen gerade, wir sind nicht die Beherrscher dieses Universums. Wir sind nicht die Herren der Schöpfung. Wir können uns die Erde nicht Untertan machen", so der in Wien lebende Philosoph Philipp Blom. Und er fragt gleich weiter: "Wer sind wir dann eigentlich".

Im Gespräch mit Yves Kugelmann nimmt Philipp Blom eine gedankliche, sehr brisante, Tiefenschürfung vor.

Philipp Blom: Aufklärung In Zeiten Der Verdunkelung

30.10.2023

Das neue Buch von Philipp Blom ist der Aufruf zu einer neuen Klarheit des Denkens. Denn die Probleme von morgen können wir nicht mit der Denkweise und Philosophie von gestern bekämpfen. Wenn die wichtigsten politischen und philosophischen Errungenschaften der Aufklärung – Demokratie, Menschenrechte, evidenzbasiertes Denken – überleben sollen, müssen wir eine Lebensweise und ein Verständnis der Welt entwickeln, die dem menschlichen Wohlergehen verpflichtet sind und von planetarischer Gerechtigkeit getragen werden.In existenziellen Krisen der Menschheit ist das Ethos der Aufklärung notwendiger denn je. In seinem kämpferischen Essay zeigt Philipp Blom: Es sind mit theologischem Schutt behaftete Ideen, die von der gemäßigten Hauptströmung der Aufklärung transportiert wurden und unser Denken und Handeln bis heute prägen. Jetzt ist es Zeit für die wahre, radikale Aufklärung!

Philipp Blom, geboren 1970 in Hamburg, studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford. Er lebt als Schriftsteller und Historiker in Wien. Zu den bekanntesten Büchern des vielfach ausgezeichneten Bestseller-Autors zählen Der taumelnde Kontinent, Die zerrissenen Jahre, Die Welt aus den Angeln, Was auf dem Spiel steht sowie zuletzt Die Unterwerfung. Neben seinen historischen und literarischen Werken ist Philipp Blom journalistisch tätig, moderiert die Sendung Punkt Eins auf dem österreichischen Kultursender Ö1, macht Filme wie die mehrfach preisgekrönte Dokumentarserie Der taumelnde Kontinent und kuratiert Ausstellungen in Europa und den USA.

Cathrin Kahlweit, Journalistin und Publizistin

Philipp Blom:Aufklärung in Zeiten der Verdunkelung

Brandstätter Verlag/Auf dem Punkt, September 2023, ISBN: 978-3-7106-0737-0; € 22,-

Aufgezeichnet im Kreisky Forum am 17. Oktober 2023.

Technische Produktion: Maximilian Hofko

Erstausstrahlung auf W 24 am 16.11.2023

Blomcast: Transformationen — Wenn die Welt eine andere wird

26.11.2023

Philipp Ther erforscht Transformationen in der Geschichte. Der Wittgenstein Preis-Träger und Autor historischer mehrerer Bestseller beschäftigt sich besonders mit Phasen, in denen die Welt sich radikal verändert. Ich frage ihn, ob wir in der Gegenwart in so einer Phase sind, welche transformativen Momente in den vergangenen Jahrzehnten besonders zu unserer gegenwärtigen Situation beigetragen haben und ob das liberale Projekt sich totgelaufen hat.

Jung & Naiv: Philosoph & Historiker Philipp Blom

30.10.2023

Zu Gast im Studio: Philipp Blom. Er studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford, wo er 1996 mit einer Dissertation über die Nietzsche-Rezeption und das Rassendenken im Kulturzionismus promoviert wurde. Zuletzt veröffentlichte er das Buch "Die Unterwerfung - Anfang und Ende der menschlichen Herrschaft über die Natur"

Ein Gespräch über Philipps Interesse an der Geschichte und die Zukunft, die aktuelle Krise und die anstehende Klimakatastrophe, unser Unwillen unser Verhalten zu verändern, Vertrauen in Eliten und die Wissenschaft, Wirtschaftswachstum, der Glaube an neue Zaubertechnologien, Kapitalismus, Gier, Überreichtum und der neue Adel, die Krise der Demokratien, die "Rauchende Trümmer"-Theorie, Philipps Kindheit, Zeit in der Waldorfschule, sein Interesse am Judentum, der heutige Krieg in Nahost und der historische Konflikt dahinter, seine Politisierung und der Diskurs mit seiner Frau, Philipps Interesse an der Geschichte der menschlichen Herrschaft über die Natur, der heutige Glaube an den Markt und die unsichtbare Hand, Neoliberalismus, die Geschichte der "Unterwerfung" der Natur, die Aufforderung des Bibelgotts sich die Erde zum Untertanen zu machen, die Möglichkeit dem Wahn die Natur zu beherrschen zu entkommen, erneuerbare Energien und was wir von Hefe & Pilzen lernen können sowie die potenzielle Gefahr von künstlicher Intelligenz  + eure Fragen via Hans

Blomcast: Kleine Eiszeit III: Kleine Eiszeit und Klimakatastrophe — können wir aus der Geschichte lernen?

29.1.2023

Als die Natur sich während der Kleinen Eiszeit veränderte, mussten die Gesellschaften, die von ihr abhingen, sich anpassen. Dies schuf Gesellschaften, die unseren ähneln: urbanisiert, angewiesen auf internationale Märkte und immer stärker dominiert durch Wissenschaft und eine erstarkende Mittelschicht. Dies ist der Aufstieg des Bürgertums, der Aufklärung, des Liberalismus und des Imperialismus. So entsteht eine Frage: Was, wenn überhaupt, kann die Gegenwart im Hinblick auf die Klimakrise davon lernen, was vor 400 Jahren passierte?

Blomcast: Künstliche Intelligenz — der Wendepunkt für Mensch und Maschine?

14.5.2023

Seit Ikarus zu nahe an der Sonne flog, spricht die gemeinsame Geschichte von Menschen und Maschinen von Ängsten und Hoffnungen, von menschlichem Ehrgeiz. Von Leonardos Entwürfen über die Industrialisierung, den Ersten Weltkrieg und die Atombombe hat diese Beziehung viele Kapitel gehabt. Menschen haben sich in Maschinen wiedererkannt, haben ihre Fähigkeiten und ihre Intelligenz imitiert, haben vor ihnen Angst gehabt und sich parallel zu ihnen entwickelt. Mit dem Aufstieg der künstlichen Intelligenz — einer Maschine, die selbst lernt — könnte dieses Gleichgewicht kippen. Sind Menschen nur Prototypen einer komplexeren Maschinen-Intelligenz?

Blomcast: Warum Europa?

2.4.2023

Um 1450 waren die größten und zivilisiertesten Mächte und Märkte in China und Indien, das osmanische Reich, auch Kulturen wie die Khmer in Kambodscha und die Azteken in Mittelamerika projizierten Macht. Europa bestand aus Kleinreichen, die dauernd im Krieg miteinander lagen und die seit dem römischen Reich einen Rückschritt erlebt hatten. Trotzdem war es das kleine, provinzielle Europa, das 300 Jahre später die Welt regierte. Wie konnte es dazu kommen? Wie wichtig waren dabei Viren und Kanonen, Religion und Geographie?

Blomcast: "Macht Euch die Erde untertan" — woher kommt die Idee der Naturbeherrschung?

19.3.2023

Lange vor der Bibel entstand die Idee, Menschen könnten die Natur unterwerfen. Mit dem Christentum wurde sie über den ganzen Globus verbreitet. Aber wo kam sie her und was bedeutet sie verbunden mit den Technologien des 21. Jahrhunderts?


Blomcast: Kultur zwischen Eis und Feuer

5.3.2023

Geschichte war immer die Untersuchung der Vergangenheit von Menschen. Mit neuen Forschungsmethoden der Klimawissenschaften sind aber ganz neue Zugänge möglich geworden: Die Geschichte menschlicher Gesellschaften in einer dynamischen natürlichen Umgebung. Das öffnet ganz neue Perspektiven auf Aufstieg und Fall ganzer Kulturen, von den ersten Stadtkulturen und dem Fall von Rom bis hin zur Klimakatastrophe der Gegenwart.

Blomcast: Die Feuerpumpe — Warum Utopien scheitern

19.2.2023

Aufgeklärte Utopien wollten Wendepunkte schaffen, um die Geschichte zum Guten zu wenden und zu überwinden. Aber die Tugendrepubliken, die sie wollten, wurden nie Wirklichkeit? Warum müssen aufgeklärte Utopien scheitern?

Blomcast: Die kleine Eiszeit II: Zwei Städte, zwei Schicksale

2.1.2023

Mit langen, klirrenden Wintern, verregneten Sommern und verdorbenen Ernten setzte die kleine Eiszeit Europas Gesellschaften während des 15. und 17. Jahrhunderts stark unter Druck. Erst langsam entwickelten sich erfolgreiche Strategien der Anpassung an die neuen Bedingungen. Die Schicksale von Madrid und Amsterdam zeigen unterschiedliche Schicksale, von Zusammenbruch bis Transformation.

Blomcast: Die Kleine Eiszeit I — Die letzte Klimakatastrophe

30.12.2022

Zwischen ca. 1570 und 1680 fielen die Temperaturen weltweit um etwa zwei Grad Celsius. Das verursachte Hungersnöte und Unruhen. Warum wurde es kälter, was passierte und wie reagierten Gesellschaften auf diese Krise, und was hat das alles mit Hexenverbrennungen zu tun?

Hitler's Vater: Wie der Sohn zum Diktator wurde

19.3.2021

Youtube Molden Verlag - 18.03.2021 - Roman Sandgruber

Autor Roman Sandgruber im Gespräch mit Historiker Philipp Blom. Eine Veranstaltung des Molden Verlags in Kooperation mit "Die Presse" und "Kleine Zeitung".
• Hitlers Vater und die Familie Hitler im Licht eines spektakulären Quellenfunds
• Kindheit und Jugend des Diktators neu erzählt
• Ein präzises und eindrückliches Sittenbild aus der oberösterreichischen Provinz

Ein spektakulärer Quellenfund änderte radikal das Bild, das wir uns bislang über Adolf Hitlers Vater Alois und die Familie Hitler gemacht haben: ein dickes Bündel vergilbter Briefe des Vaters in gestochener Kurrentschrift, das sich auf einem Dachboden über den Kahlschlag der NS-Zeit hinwegrettete und das dem Historiker Roman Sandgruber in die Hände fiel. Die 31 Briefe eröffnen einen völlig neuen und genaueren Blick auf die väterliche Persönlichkeit, die den jungen Adolf Hitler maßgeblich prägte. Und bringen etwas Licht ins Dunkel des von Mythen, Erfindungen und Vermutungen geprägten Alltags der Familie Hitler. Denn immer noch, und immer wieder bewegt uns die Frage: Wie konnte ein Kind aus der oberösterrreichischen Provinz, ein Versager und Autodidakt, einen derartigen Aufstieg schaffen?

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Gespräch zum Buch „Politik mit der Angst“

24.11.2021

Youtube & Spotify - 16.11.2021 - Kreisky Forum

Am 16. November, 19.00 Uhr im Kreisky Forum ist Philipp Blom mit Ruth Wodak im Gespräch zum Buch „Politik mit der Angst“. Ab dem 18. November kann das Gespräch auf Youtube

www.youtube.com

nachgesehen oder als Podcast auf Spotify

www.spotify.com

nachgehört werden.

Neues Buch: Die Welt aus den Angeln

26.1.2017

Philipp Blom, einer der wichtigsten Historiker unserer Zeit, über die Entstehung der modernen Welt – ein großartiges historisches Panorama

Lange kalte Winter und kurze kühle Sommer: Im 17. Jahrhundert veränderte sich das Klima in Europa dramatisch. Das Getreide wurde knapp, Wirtschaft und Gesellschaft torkelten in eine tiefe Krise. Die Kleine Eiszeit vermittelt uns eine Vorstellung von den schweren Verwerfungen, die ein Klimawandel auslöst. Die Menschen versuchten sich mit Hilfe von Aufklärung, Wissenschaft und Technik aus der Abhängigkeit von der Natur zu befreien. Aber heute stößt diese moderne Welt an ihre Grenzen, weil sie eine erneute Klimakatastrophe heraufbeschwört. Philipp Blom entfaltet ein großartiges historisches Panorama, in dem wir die Herausforderungen der Gegenwart erkennen.

Erscheinungsdatum: 20.02.2017
304 Seitenhttps://philipp-blom.eu/cms/wp-content/uploads/
Hanser Verlag
Fester Einband
ISBN 978-3-446-25458-9
€ 24,00 (D)

Neues Buch: Gefangen im Panoptikum

20.2.2017

Reisenotizen zwischen Aufklärung und Gegenwart

Mit den Denkern der Aufklärung die Krise der Gegenwart verstehen

Aus der Reihe "Unruhe bewahren" in Kooperation mit der Akademie Graz und DIE PRESSE

Wir leben mitten in einer Krise der Aufklärung: Rationalität, Universalismus, Menschenrechte und Demokratie werden zunehmend in Frage gestellt. Um diese Entwicklung zu verstehen, greift Blom auf die großen Debatten der Aufklärung zurück. Denker wie Hobbes, Voltaire, Rousseau, Diderot, Kant und Bentham werden befragt, um einen Blick in unsere Zukunft zu werfen. Ihre Perspektiven auf die Gesellschaft nehmen unsere Kontroversen vorweg, ihre Argumente beschreiben Utopien, die unsere heutige Realität prägen. Vom Neoliberalismus und dem Kollaps der Linken bis hin zu identitären Argumenten, von der Überwachungsgesellschaft bis zur Naivität der Wohlmeinenden und dem Zynismus der Privilegierten – alles wird hier bereits kritisch verhandelt.

Erscheinungsdatum: 28.02.2017
ca. 96 Seiten
Format 140x220 Klappenbroschur
ca. 18,00 €
ISBN: 9783701734184
ISBN ebook: 978370174552

9 Fragen an Philipp Blom

10.1.2019

Der bekannte Historiker und Autor von „Was auf dem Spiel steht“ ist einer der führenden Wissenschaftler, wenn es darum geht, die Verwerfungen und negativen Entwicklungen unserer Zeit zu analysieren und Auswege aus dem gegenwärtigen Dilemma aufzuzeigen.
Fragen: Aline Schmid | Foto: Heike Bogenberger
moment by moment Ausgabe 4_2018
www.moment-by-moment.de
Mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Neues Buch: Neue Einblicke in das Kunsthistorische Museum Wien

7.4.2016

Meisterwerke der Kunst neu erzählt
Von Bestsellerautor Philipp Blom und Veronica Buckley

Dieser Titel ist auch auf Englisch erhältlich.

Buch beim Brandstätter Verlag bestellen.

Maybrit Illner in ZDF: "Große Koalition immer kleiner - Stunde der Populisten?“

12.5.2016

ZDF Das Zweite | Do, 12. Mai 2016

» mehr: http://www.borlife.de

Am heutigen Abend widmet sich Maybrit Illner im ZDF der aktuellen politischen Situation in Deutschland und Europa, in der vor allem die populistischen Parteien an Zuspruch gewinnen. Zur Frage: “Große Koalition immer kleiner – Stunde der Populisten?” nehmen Markus Söder, Oskar Lafontaine, Klaus Wowereit und Marcus Pretzell sowie Philipp Blom Stellung.
Die Umfragewerte der Großen Koalition stürzen immer weiter in den Keller. Die Union aus CDU und CSU präsentiert sich schon seit Monaten nicht mehr als Einheit und hat in den vergangenen Monaten fast neun Prozent verloren. Die SPD befindet sich schon fast im Dauertief und rutschte sogar schon unter die 20 Prozent. Profitieren konnte davon bislang vor allem die Alternative für Deutschland, die teilweise 15 Prozent auf Bundesebene zu verzeichnen hat und den etablierten Parteien den Rang abläuft.

Große Koalition immer kleiner mit Markus Söder, Oskar Lafontaine, Klaus Wowereit und Marcus Pretzell
Den Hintergründen zu dieser Entwicklung möchte Maybrit Illner auf den Grund gehen. Ausgangsfrage ist dabei: “Große Koalition immer kleiner – Stunde der Populisten?”. Allerdings scheint die Themenlage deutlich komplexer zu sein, denn ist “alternativlose Politik” von Kanzlerin Merkel wirklich der richtige Weg und wie setzt man sich inhaltlich verstärkt mit den populistischen Parteien auseinander? Können die etablierten Parteien nicht die Sehnsucht nach Sicherheit bedienen? Mit Markus Söder (CSU, Finanzminister Bayern), Oskar Lafontaine (Die Linke, Fraktionsvorsitzender im Saarland), Klaus Wowereit (SPD), Marcus Pretzell (AfD, Mitglied des Europäischen Parlaments) und Philipp Blom (Historiker, Publizist) gibt es dazu ab 22.15 Uhr eine äußerst interessante Diskussion.

Der autoritäre Traum

21.12.2015

ZDF heute | 21.Dezember 2015

Unsere moderne Gesellschaft muss sich von der Weltordnung der Nachkriegszeit verabschieden. Zwei Träume prallen rasant aufeinander: Der eine hält die Menschenrechte und Freiheiten hoch, der andere spricht von traditionellen Werten. Er sieht sich verachtet.
Selten haben sich Ereignisse so überschlagen wie 2015, selten sind alte Sicherheiten so schnell weggebrochen, politische Strukturen so rasant obsolet geworden. Noch bis vor wenigen Monaten schien das Morden in Syrien und den umliegenden Ländern weit entfernt zu sein, ein Problem, von dem Europa effektiv isoliert schien. Dieses Gefühl der Sicherheit ist längst vergangen. Die Weltordnung der Nachkriegszeit ist endgültig vorbei.
Heute sehen wir die Konturen einer politischen und ideologischen Welt, für die die Regeln noch nicht geschrieben, die Protokolle noch nicht ausgearbeitet sind, in der rechts und links kaum noch etwas bedeuten, in der geografische Zuschreibungen nur wenig aussagen, in der die eigentliche Spaltung entlang einer ganz anderen Linie geht: die immer stärker gegenwärtige Trennung zwischen zwei Träumen, zwei Antworten auf die Zentrifugalkraft der Moderne.
Der eine von ihnen, nennen wir ihn den liberalen Traum, sieht die Welt individualistisch und pluralistisch, thematisiert Menschenrechte und Freiheiten. Er hat seinen Ursprung in der Aufklärung. Der andere sieht die Welt in Kollektiven, in Völkern und historischen Gemeinschaften, um deren Reinheit und Fortbestand er besorgt ist. Er spricht von traditionellen Werten und sieht sich verachtet. Er wütet gegen die Dekadenz der liberalen Gesellschaft und "unnatürliche" sexuelle Ausschweifungen. Er sieht Frauen in traditionellen Rollen und achtet Fremde, solange sie in der Fremde bleiben. Sein Verständnis von Kultur ist essentialistisch. Wo er "Kultur" sagt, sprach man vor 80 Jahren noch von "Rasse". Politisch setzt er auf starke Führungspersönlichkeiten. Nennen wir ihn den autoritären Traum. Er hat seinen Ursprung in dem Gefühl, betrogen worden zu sein.

Der autoritäre Traum lebt unabhängig von Religion

Dieser autoritäre Traum verbindet scheinbar völlig unterschiedliche politische Akteure: Pegida mit Evangelikalen Nationalisten in den USA, Wladimir Putin mit Anders Breivik, Viktor Orban mit den Hindu-Nationalisten in Indien, jüdische Siedler in den palästinensischen Gebieten mit Boko Haram, saudi-arabische Gerichte mit dem Front National, die faschistoiden Monologe eines Donald Trump mit Recep Tayyip Erdogans Angriffen auf türkische Journalisten - und sie alle mit dem medienkonformen Horror der IS. Er ist islamisch, jüdisch, christlich oder religionslos. Immer ist er nostalgisch geprägt, von Ressentiments angetrieben, von einem Glauben an Vorsehung beseelt. Er bietet seinen Anhängern eine Rechtfertigung für den eigenen Zorn, klare Verhältnisse, einen verlässlichen Feind.
Der Vision einer intakten, rechtgläubigen und reinen Gesellschaft stellt der autoritäre Traum ein Bild des orientierungslos hedonistischen Relativismus gegenüber, das Leben in der Geldmaschine, gelenkt von fremden Mächten, ein zügelloses großes Fressen bei dem alles erlaubt ist und nichts etwas bedeutet, ein Leben ohne Ehre und Spiritualität. Natürlich, wir akzeptieren diese Beschreibung nicht. Wir stimmen reflexhaft das alte Lied der liberalen Gesellschaften an. Wir erwidern die Hoffnung auf den Himmel, das Paradies oder das ewige Kalifat mit dem Hinweis auf den Rechtsstaat, mit Zahlen und Fakten über Lebensstandards.

Menschenrechte sind uns heilig, solange es unsere sind

Die Geschichte gibt uns nur sehr eingeschränkt recht, wenn wir die Werte der Aufklärung beschwören. Auch im Namen von liberté, egalité, fraternité ist Terror verübt worden und die Werte der Aufklärung verhinderten weder koloniale Unterdrückung noch die europäischen Völkermorde des 20. Jahrhunderts. Morden im Namen der Gleichheit, Verfolgung im Namen der Freiheit und Unterdrückung im Namen der Brüderlichkeit sind vom Westen aus in die ganze Welt exportiert worden.
Die Politik des erhobenen Zeigefingers verträgt sich nur schlecht damit, dass wir unzweifelhaft von der Sklavenarbeit anderer Menschen, von der blutigen Unterdrückung "befreundeter" Diktaturen, von der Ausbeutung von Rohstoffen und den damit verbundenen Kriegen profitieren und in unserem technologischen Egoismus eine Klimakatastrophe verursacht haben, deren Ausmaße wir bislang nur ahnen können. Menschenrechte sind uns heilig, solange es unsere Menschenrechte sind. Freiheit muss zuerst einmal unsere Freiheit sein, unser Leben zu gestalten, das Recht auf uneingeschränkten Konsum.

Wir haben vergessen, dass wir auch Bürger sind

Wir sind Verbraucher geworden, die vergessen haben, dass sie auch Bürger sind. Auf der einen Seite sind die rücksichtslosen Selbstoptimierer im ewigen Wettlauf darum, der Beste zu sein, reich zu werden, abzuzocken - auf der anderen eine immer größere Klasse von Verlierern, von Ängstlichen, die ihren Wohlstand bedroht sehen, von Ausgeschlossenen, die niemals eine echte Chance haben werden - und derer, die ihre Privilegien bedroht sehen.
Der liberale Traum wird in Gesellschaften gepredigt, die mehr denn je überwacht, kontrolliert und bespitzelt werden, in denen wichtige Entscheidungen hinter verschlossenen Türen von einer Wirtschaftselite getroffen zu werden scheinen und der träge Mechanismus der Demokratie oft nur noch wie Schaufensterbehübschung wirkt. Höchstes Ziel ist die Erhaltung des Status quo, die Verteidigung des erreichten Wohlstandes. Es gibt nicht viel zu träumen in dieser Welt. Das liberale Individuum fröstelt in der existenziellen Kälte, auch dieser Traum kann menschenverachtend sein.

Wir können den Traum nicht mit Umsatzzahlen widerlegen

Liberale und autoritäre Kräfte werden immer öfter aufeinanderprallen, aus ideologischen oder geopolitischen Gründen. Es ist eine Auseinandersetzung, die sich auf allen Ebenen abspielt und deren Resultat völlig offen ist. Eines muss uns bewusst sein: Wir können den autoritären Traum nicht mit Umsatzzahlen widerlegen.
Vielleicht haben wir uns auf Zahlen zurückgezogen, weil wir denkfaul geworden sind. Demokratie, Menschenrechte und individuelle Freiheit scheinen das unerschütterliche Fundament unserer Gesellschaften zu bilden, gegründet auf Naturrecht und Aufklärung, unverrückbar wie das Mittelmeer, in dem täglich Flüchtlinge ertrinken.

Menschenrechte gibt es nicht in der Natur

Historisch gesehen sind Ideen wie Gleichheit und Menschenrechte als universelle Prinzipien allerdings ausgesprochen jung. Noch im 18. Jahrhundert schienen sie sogar aufgeklärten Autoren wie Voltaire als widersinnig und gegen die Natur, eine wilde Fiktion, die nur von Geistern im Fieberwahn erdacht sein konnte. Als Grundlage staatspolitischen Handelns sind diese Rechte erst etwa zwei Generationen alt.
Menschenrechte gibt es nicht in der Natur. Sie sind eine Erfindung der Aufklärung die nur dadurch Wirklichkeit wird, dass wir sie einander zusprechen und garantieren. Rechte bestehen nur dann, wenn sie einklagbar sind. Sie benötigen Institutionen und gesellschaftlichen Willen, um Wirklichkeit zu werden. Diese Rechte aber nicht nur Mitgliedern der eigenen unmittelbaren Gemeinschaft zuzusprechen, sondern allen Mitgliedern der eigenen Spezies, ist ein ungeheurer und radikaler Gedankensprung, der keine Entsprechung hat außerhalb der menschlichen Fantasie.
Gerade deswegen ist es wichtig zu wissen, dass es für uns ein böses Erwachen geben kann, dass die Geschichte nicht unumkehrbar vorwärts schreitet und das Experiment Aufklärung nach nur einigen hundert Jahren plötzlich wieder beendet werden kann - durch Gewalt oder durch Gleichgültigkeit. Die Fiktion von Menschenrechten und Freiheit kann innerhalb kürzester Zeit zu einer Episode der Geschichte werden.

Festung Europa?

Der autoritäre Traum ist noch längst nicht ausgeträumt. Seine Anziehungskraft ist ungebrochen. Es ist nicht schwer, sich eine nahe Zukunft vorzustellen, in der eine von Zäunen und Mauern umgebende, alternde und zunehmend ängstliche und autoritäre Festung Europa neben einem orthodoxen Großrussland und einem islamischen Kalifat im Nahen Osten lebt. Es wäre ein neues, uraltes Einverständnis zwischen Herrschern und Beherrschten, eine Art Wertegemeinschaft und ein gigantischer kultureller Zusammenbruch.
Der liberale Traum ist mehr als ungebremster Konsum und das ängstliche Festhalten an Privilegien und Umsatzzahlen. Migration und Klimawandel werden die Gesellschaften Europas in den nächsten Jahrzehnten vor große Herausforderungen stellen und umgestalten. Das ist eine historische Chance, den kühnen und verwundbaren Traum von den Rechten aller Menschen weiter zu realisieren, die Grenzen unserer Solidarität weiter zu stecken und Veränderungen zu ergreifen und zu gestalten. Der Traum von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, der vor 300 Jahren die besten Köpfe begeisterte, ist der schönste Traum, den die Menschheit jemals geträumt hat. Er ist eine Forderung der Zukunft an die Gegenwart.

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Wiener Vorlesung: Macht euch die Erde untertan

16.5.2021

w24.at - 09.02.2021 - Sonja Kato

„Macht euch die Erde untertan!“, ruft Gott Adam und Eva zu und macht sie damit zu Herrschern über die Schöpfung. Dieser Satz begleitet die Geschichte seit drei Jahrtausenden – und mit ihm die Idee, dass Menschen über den Rest der Welt erhaben sind und die Natur kontrollieren, manipulieren, ausbeuten können.

In der Klimakatastrophe und der Covid-19-Pandemie zeigt sich mit brutaler Deutlichkeit, dass diese Position sich nicht halten lässt. Der Mensch ist Teil der Natur – und kein besonders wichtiger.

Diese Wiener Vorlesung thematisiert, dass es an der Zeit ist, mit 3000 Jahren Kulturgeschichte zu brechen.

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Macht euch die Erde untertan? - FALTER-Radio Podcast mit Raimund Löw.


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"ttt": Die Flüchtlingskrise als Zeitenwende - Warum es um viel mehr geht als um Obergrenzen

31.1.2016

Vor welcher Zeitenwende stehen wir da gerade? "ttt" hat Claus Leggewie und Philipp Blom getroffen und mit ihnen über die Flüchtlingskrise und die großen politischen Herausforderungen der Zukunft gesprochen.

ARD Das Erste
So, 31.01.16 | 23:05 Uhr
mehr: http://www.presseportal.de/pm/6694/3236890

Nachwort zu "Der Name der Rose" von Philipp Blom

15.3.2022

Vor 40 Jahren erschien die deutsche Übersetzung eines Romans, der in Italien bereits ein großer Erfolg war und sich anschickte zu einem weltweiten Mega-Bestseller zu werden. Bis heute sind über 50 Millionen Exemplare des Buches verkauft, das mehrfach verfilmt, inszeniert und vertont wurde. Jetzt ist im Hanser Verlag eine "Jubiläumsausgabe" des Romans erschienen und Philipp Blom hat dazu ein Nachwort verfasst.

Jubiläumsausgabe UMBERTO ECO: „DER NAME DER ROSE“
Mit Originalzeichnungen von Umberto Eco
Verlag:Hanser, 2022 - Seiten:Gebunden, 816 Seiten
Nachwort:Philipp Blom
Übersetzung:Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber

RBB Online
NDR Online

Mehr als 600.000 Aufrufe - Philipp Blom: Wie sieht unser Lebensmodell nach Corona aus?

10.1.2021

SRF Kultur / Sternstunde - 10.01.2021 - Yves Bossart

Für den Bestsellerautor, Historiker und Philosoph Philipp Blom ist klar: Unser Selbstbild und unser Wirtschaftssystem sind bankrott. Wir brauchen ein neues Lebensmodell für die Zukunft. Denn wir Menschen stehen nicht über der Natur. Wir sind Teil von ihr, abhängig und verletzlich. Das zeigt die Pandemie ebenso wie die Klimakrise.

«Menschen lernen nicht aus der Geschichte, aber sie reagieren auf Traumata», schreibt der deutsche Historiker und Philosoph Philipp Blom. Hinterlässt die Pandemie ein solches Trauma? Oder die Klimakrise? Nach Blom befinden wir uns derzeit am Ende von 3000 Jahren Kulturgeschichte. Am Anfang stand das göttliche Gebot: Macht euch die Erde untertan! Aufklärung, Industrialisierung und Kolonialismus folgten diesem Glauben. Damit ist jetzt Schluss, meint Blom: Ausbeutung, Wachstum und Selbstüberschätzung haben ausgedient. Die Menschheit braucht eine neue Meistererzählung, eine neue Zukunftsvision. Aber welche? Yves Bossart spricht mit dem zukunftsorientierten Historiker über unsere Zeitenwende und all das, was auf dem Spiel steht.

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Wir geraten in eine Stromschnelle der Geschichte

16.3.2017

Von Siobhán Geets | Wiener Zeitung Online

Rhetorische Entgleisungen wie jene des US-Präsidenten Trump schaffen eine neue Normalität, sagt Blom.

Wiener Zeitung: Ihr neues Buch "Die Welt aus den Angeln" handelt davon, wie die Kleine Eiszeit im 16. und 17. Jahrhundert die Gesellschaftsstruktur in Europa auf den Kopf stellte. Leben wir auch heute in revolutionären Zeiten?

Philipp Blom: Das ist schwer zu sagen. Wir leben in Zeiten, in denen Dinge möglich geworden sind, die wir vor ein paar Jahren noch für unmöglich hielten. Man kann von da, wo wir jetzt sind, direkte Wege zeichnen in revolutionäre oder diktatorische Gesellschaften. Das heißt aber nicht, dass das auch passieren wird. Aber es sind Dinge aufgebrochen. Die Nachkriegszeit ist vorbei - und mit ihr auch das Geschäftsmodell der westlichen Gesellschaften.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Wir leben in Gesellschaften, die auf Wirtschaftswachstum ausgerichtet sind. Aber es wird immer schwerer zu generieren. Sicher geht es nicht mehr so wie bisher: Ausbeutung fossiler Brennstoffe und ärmerer Menschen, die jetzt besser informiert sind und sich denken: Warum sollen wir uns damit zufriedengeben, wir können auch in die reiche Welt gehen, wo auch wir ein besseres Leben haben können.

Und, historisch gesehen, auf der politischen Ebene?

Da kommt ein historischer Zusammenbruch der Linken hinzu - eine Konsequenz der Deindustrialisierung. Die Linke beruhte auf einer Gewerkschaftsbewegung, die aus der Arbeiterklasse herauskam. In der Fabrik zu arbeiten war nicht nur ein Job, das war eine Lebensweise. Da war ein Stolz, eine Identität, eine Sicherheit. Mit dem Verschwinden der Industrie ist auch das weg. Übrig geblieben ist ein Prekariat, das keinerlei Sicherheit mehr hat, keinerlei Planbarkeit des eigenen Lebens, keinen Stolz auf das, was es tut. Das ist keine organisierte Gruppe von Menschen mehr. Diese Gruppe geht auch weniger wählen. Deshalb haben sich die linken Parteien gut marktwirtschaftlich gedacht: Wir müssen dahin gehen, wo wir auch tatsächlich gewählt werden, und das sind die gebildeteren Schichten in den Städten.

War das der Fehler?

Die Linke hat ihre alte Klientel, die demografisch verschwunden ist, aufgegeben. Dass diese Leute verbittert und frustriert sind, da sie keine politische Repräsentation mehr haben, ist richtig. Dass sie dann leider zum Ziel von Demagogen werden, die ihnen eine Lösung vorgaukeln, die keine sein kann, das ist leider auch der Fall. Ein Rückzug in den Nationalstaat kann und wird in einer globalisierten Welt nicht funktionieren.

Der Rückzug wird aber als Kampf gegen Arbeitsplatzverlust verkauft.

Die Arbeitslosigkeit steigt. Mit Migration hat das aber nichts zu tun, sondern vorrangig damit, dass Maschinen diese Arbeit machen und das in Zukunft noch häufiger tun werden. Wenn Politiker über Vollbeschäftigung reden - das ist Politik aus dem 20. Jahrhundert! Diese Strukturen sind zusammengebrochen. Menschen merken, hier funktioniert etwas nicht mehr, Politiker handeln nicht in unserem Interesse. Oder vielleicht haben sie schlicht nicht mehr die Macht dazu. In so einer Situation können populistische Bewegungen aufkommen. Etwas sehr Wichtiges kommt hinzu: Wir haben beschlossen, dass die Zukunft nichts Gutes bringt: der Niedergang unserer Sozialsysteme, Klimawandel, Umweltverschmutzung, Migration. Deswegen wollen wir lieber gar keine Zukunft und nur zusehen, dass die Gegenwart nicht aufhört. Eine Statusverwaltung. Doch eine Gesellschaft ohne Zukunft, ohne Hoffnung, ohne gemeinsames Projekt, kann nicht bestehen. Die Rechten, die Populisten, bieten ein Projekt an, wenn auch ein zerstörerisches.

Sind es nicht gerade die konservativen Trittbrettfahrer, die den Rechtspopulisten Aufwind geben, indem sie deren Ideen aufnehmen?

Sicher. Man braucht immer diese Möglichmacher. Da hat (der republikanische US-Politiker, Anm.) John McCain recht - und ich hätte nie gedacht, dass ich je mit ihm übereinstimmen würde. Als Donald Trump sagte, die Medien seien der Feind des amerikanischen Volkes, sagte McCain: Genauso fangen Diktaturen an. Das heißt nicht, dass man den ganzen Weg geht. Mit ziemlicher Sicherheit wird Trump das nicht tun. Er scheint so erratisch und inkompetent, dass er wahrscheinlich bald verschwindet. Vielleicht ist er aber auch in acht Jahren noch da.

Was ist das wirklich Gefährliche an der gegenwärtigen Entwicklung?

Das Schlüsselwort ist Normalisierung. Auf der ersten Seite der britischen "Daily Mail" wurden Höchstrichter mit Foto und vollem Namen als Volksfeinde bezeichnet, nachdem sie entschieden hatten, dass das Parlament beim Brexit mitreden darf. Wenn so etwas normal wird, wenn man immer einen Schritt weiter geht, darf man sich nicht wundern, dass - nachdem Trump sagt, was er sagt - ein jüdischer Friedhof verwüstet und Moscheen angegriffen werden. Das ist die Mob-Reaktion auf diese Rhetorik. Die Taten von ein paar betrunkenen Hooligans gelangen in andere Bevölkerungsschichten. Wir erleben jetzt alle Übergangsstadien, in Ungarn und Russland und der Türkei, zu totalitären Regimes, die vielleicht noch nominell demokratisch sind.

Liberale Demokratien sind das nicht mehr . . .

Nein. Liberale Demokratien bestehen nicht nur aus demokratischen Spielregeln, sondern auch aus moralischen Grundprinzipien. Man kann schrecklich demokratisch sein und Christen den Löwen vorwerfen. Wenn das die meisten Leute gut finden, ist das demokratisch. Aber zu einer liberalen Demokratie reicht das nicht. Da braucht man die Werte der Aufklärung. Das sind künstliche Werte. Die sind kein Naturzustand des Menschen.

Kann man diese Werte der Aufklärung als Projekt verkaufen?

Ich weiß nicht, ob das nicht zu abstrakt ist. Mit der Migrationskrise sehen wir das genuine Dilemma: Menschenrechte sollten universell sein, das bedeutet, dass jeder gleiche Rechte hat. Das gilt auch für Menschen, die flüchten. Wenn aber, wie es manche vorhersagen, weitere fünf oder sechs Millionen nach Europa wollen, ist das mit dem sozialen Frieden der europäischen Gesellschaften nicht vereinbar. Dann riskieren wir den Bestand unserer eigenen Gesellschaft. Wir können diesen Rechten also nicht in ihrem vollen Umfang stattgeben. Das ist eine sehr ambivalente Situation. Wenn man einmal ein Zwei-Klassen-Menschenrecht institutionalisiert und akzeptiert, dann ist es eine Frage der Zeit, bis es andere Minderheiten trifft - und jeder von uns ist Teil einer Minderheit.

Kann die liberale Demokratie denn bloß mit Wohlstand locken?

Eigentlich wären Sozialismus und Gütergemeinschaft die ideale Gemeinschaft. Eine solche kann aber nur in elektiven Gemeinschaften existieren: in einem Kibbuz, und dort nur in der ersten Generation, in einem Kloster, wo Menschen freiwillig hingehen, in einer Kommune. Sobald Menschen dort hineingeboren werden, eigene Ideen entwickeln, die anders sind, ist diese ideelle Gemeinschaft gebrochen. Will man sie gewaltsam erhalten, wird sie diktatorisch. Deswegen ist es so schwer, eine ideelle Gemeinschaft zu finden. Deswegen ist Kapitalismus so schrecklich realistisch: Weil er davon ausgeht, dass wir alle unser eigenes Vorkommen, unseren eigenen Vorteil wollen.

Das scheint aber auch nicht zu klappen...

Wir haben uns diese Marktidee in den letzten Jahrzehnten rein neoliberal nacherzählt. Der Markt ist nur noch ökonomisch, die Gesellschaft ist eine Funktion des Marktes und nicht andersherum. Wir haben Menschen gesagt: Wenn ihr schon keine andere Transzendenz mehr habt, keine Religion, keine große sozialistische Bewegung oder kein faschistisches Ideal, dann könnt ihr eure Transzendenz zumindest auf Konsum begründen. Ihr könnt ein Ralph-Lauren-Typ werden oder eine Cartier-Dame, das ist eine Identität, eine Gemeinschaft, aber das reicht auf Dauer nicht.

Hat das je gereicht?

In der Nachkriegszeit war Konsum wirklich transformativ. Das erste Auto, die erste Waschmaschine, das erste Paar Jeans, das war etwas Besonderes. Das 19. Paar Jeans ist das nicht mehr. Heute ist ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung sehr reich, es gibt mehr und mehr, die wissen, dass sie daran nie werden teilhaben können. Dass die einzige Handtasche, die sie sich kaufen können, die vom westafrikanischen Straßenverkäufer in der Fußgängerzone ist. Dieses Konsumversprechen ist also zerbrochen, dieses Moment des gemeinsamen Projektes, das die Nachkriegsdemokratien hatten, funktioniert nicht mehr. Wir sind zurückgeblieben in dieser Idee von Menschen, die nicht mehr Bürger sind, sondern Konsumenten. Diese Idee hat politische Implikationen.

Das heißt?

Ein Verbraucher hat genau eine Pflicht: Genug Geld zu haben, - und dann hat man nur noch Rechte, ein Anrecht auf alles. Unsere komisch zukunftslosen Gesellschaften sind an einem Punkt, wo wir in eine Stromschnelle der Geschichte geraten, wo Klimawandel und Digitalisierung bedeuten, dass unsere Gesellschaften sich rasant ändern werden.

Sie schreiben in Ihrem aktuellen Buch, dass die radikale gesellschaftliche Veränderung im 16. Jahrhundert nicht nur negativ war.

Die Kleine Eiszeit zeigt: Wenn Transformation unvermeidlich ist, muss sie aggressiv angegangen und gestaltet werden. Sie zu negieren ist auch für die Mächtigsten und Reichsten nicht lange möglich. Der Unterschied zu heute ist, dass wir in Demokratien leben. Es muss den demokratischen Willen geben, diese Transformationen tatsächlich vorzunehmen. Das sehe ich im Moment nicht. Das ist die eigentliche Gefahr.

Die Rechtspopulisten versuchen, die Gesellschaft zu verwandeln...

Ja, aber sie wollen zurück in eine erfundene Vergangenheit. Das ist nicht nur das Zurück zum Nationalstaat. Der Idee des Marktes steht die Idee der Festung gegenüber. Das ist die autoritäre Idee, die an das Volk denkt, an die Schicksalsgemeinschaft, die Mauer, die Selbstbestimmung. Sie glaubt auch an eine "natürliche Sexualität". "Natürlich" ist, wenn Frau und Mann verheiratet sind und zwei Kinder haben, der Mann das Geld verdient und die Frau eine gute Mutter ist. Diese Art zu denken weiß auch relativ gut, dass Männer sowieso wertvoller sind als Frauen. Trump hat diese Denke mit seinem Satz illustriert: "You can grab them by the pussy." Wenn das für einen Präsidenten akzeptabel ist, dann sieht es nicht gut aus für Frauen.

Wie steuert man gegen? Das war doch Aufgabe der Linken?

Ein Problem ist, dass unsere Linke zu einer konservativen Kraft geworden ist. Auch progressive Politiker scheinen als einziges Mantra finden zu können: Wir müssen zurück. Wir haben keine Lust auf Veränderung. Aber sie kommt, und zwar mit historischer Geschwindigkeit und in globalem Ausmaß, innerhalb der nächsten zehn oder 20 Jahre. Je länger wir den Luxus pflegen, zu überlegen, dass wir zurückmüssen, desto mehr Zeit verlieren wir dafür, etwas zu gestalten, das ohnehin passiert.

Populisten stützen sich auf dieses Zurück - und haben Erfolg damit.

Das ist das Dilemma, in dem wir stecken. Aus dieser Spannung heraus wenden sich viele Menschen dem Populismus zu. Sie begreifen, dass das, was wir haben, nicht mehr funktioniert, laufen dann aber der falschen Lösung zu. Das hat auch mit Bildung zu tun. Die Bildung vieler Menschen ist erschreckend gering.

Welche Projekte kann die Linke anbieten? Kann man dem drohenden Arbeitsplatzverlust durch Automatisierung mit einem bedingungslosen Grundeinkommen begegnen?

Das sind alles sehr abstrakte Mittelklasseideen. Wir sind relativ tribale Primaten, wir denken an unseren kleinen Stamm. Es ist sehr schwer, etwas für die Menschheit zu tun. Vor allem, wenn man nicht so unterdrückt, so arm ist, dass man weiß: Transformation ist notwendig. Wir können nur die Kurve kratzen, wenn wir es als Gesellschaft schaffen, ein gemeinsames Projekt zu formulieren. Das ist eine echte Herausforderung und ich glaube, dass die Ideen der Aufklärung zu abstrakt sind, um Menschen in ihrem Inneren zu überzeugen. Man muss es aber dennoch versuchen. So etwas wie ein bedingungsloses Grundeinkommen ist nicht nur eine Möglichkeit. Es wird notwendig sein.

Wegen der Automatisierung?

Ja. Ich sehe keine andere Lösung. Wenn wir in Gesellschaften leben, was wir wahrscheinlich in 20, 30 Jahren tun werden, in denen ein Drittel oder die Hälfte der Menschen keine Erwerbsarbeit mehr findet, weil die Arbeit von Maschinen gemacht wird. Wir sind dann in einer Situation, wo die Produktivität der Gesellschaft erhalten geblieben ist, das Geld wird ja immer noch erwirtschaftet, die Arbeit wird immer noch gemacht, aber nicht mehr von Menschen. Dann muss man sich fragen: Wofür ist diese Wirtschaft überhaupt da? Sind wir für die Wirtschaft da oder sie für uns? Wenn sie für uns da ist, dann müssen wir auch die Arbeit von Maschinen besteuern und diesen Wohlstand umverteilen.

In einigen Ländern gibt es bereits Pilotversuche mit dem bedingungslosen Grundeinkommen.

Es gibt keine vernünftige Alternative. Wir werden sicherlich erleben, dass das in unterschiedlichen Ländern unterschiedlich schnell und unterschiedlich intelligent umgesetzt wird. Vielleicht kann man damit den Menschen die Lust am Politischen zurückgeben. Für Leute wie mich ist diese Zeit ideal. Ich habe nicht gehört, dass im letzten Jahr auf große soziale Fragen jemand geantwortet hat: Ah, da müssen wir einen Ökonomen fragen, lassen wir mal den Markt entscheiden! Wenn der Markt entscheidet, ist das meistens nicht in unserem Interesse. Es ist eine Zeit, wo Ideen und Diskussionen wieder wichtig werden.

Haben wir aus der Finanzkrise von 2008 gelernt?

Es ist wichtig, dass wir uns in unseren Gesellschaften die sehr einfache Frage stellen: Wer und wo wollen wir in 30 Jahren sein? Wie können wir dahinkommen? Wir sind damit beschäftigt zuzusehen, dass das, was wir im Moment haben, nicht weniger wird und dass wir es gegenüber Menschen verteidigen, die uns etwas davon wegnehmen wollen. Aber die Frage, was eigentlich unser gemeinsames Projekt ist, was uns verbindet, wer wir eigentlich sind und wer zu uns gehören kann, die wird sehr wenig gestellt - und sicherlich nicht von Politikern.

SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz stammt aus kleinen Verhältnissen, er hat sich hochgearbeitet, ist charismatisch - und die Umfragewerte für die SPD schnellen hoch. Was halten sie als Deutscher vom sogenannten Schulz-Effekt?

Er scheint nicht zum Establishment zu gehören. Europa nimmt niemand ernst, daher ist er sozusagen frisch in der Politik. Was wir jetzt oft genug erlebt haben, und zwar nicht nur mit Donald Trump, sondern auch mit Bernie Sanders, ist, dass die Menschen wieder politische Ideen wollen. Sie wissen, dass das, was wir haben, nicht funktioniert, wir etwas anderes brauchen. Kühnheit tut Politikern gut. Das hat Trump auf eine widerliche Weise gemacht, und Bernie Sanders auf eine erstaunliche. Dass in Amerika ein atheistischer Jude, der keinen Kamm zu besitzen scheint, eine durchaus realistische Chance hat, Präsident zu werden, bis ihn seine eigene Demokratische Partei in den Rücken sticht - das ist schon erstaunlich. Er war ein Phänomen, weil er das Wort Sozialismus wieder gebraucht hat. In einem Land, wo es als sicher galt, dass jemand, der so ein Wort in den Mund nimmt, politisch tot ist. Das erleben wir auch mit den Rechtspopulisten. Die sagen auch Sachen, die man vorher so nicht gesagt hat. Menschen reagieren darauf positiv. Deswegen könnte es sich Schulz gut leisten, neue Ideen in den Wahlkampf zu bringen und nicht nur diese strukturkonservativen Ideen, die die Linke im Moment hat.

Ist eine dermaßen an einzelnen Personen aufgehängte Politik nicht auch bedenklich?

Das zeigt vor allem, wie wenig Politik noch mit Überzeugungen zu tun hat. Da kommt jemand und der ist irgendwie cooler als der andere und dann gehen die Umfragewerte gleich zehn Prozentpunkte hoch. Das ist eine Persönlichkeit, und im Fall von Schulz wahrscheinlich eine interessante, eine, die diese Schuhe füllen könnte. Aber es ist schon erstaunlich, dass das so persönlichkeitsgebunden ist. Es gibt eine gewisse Konsumentenhaltung auch zur Politik: Wenn mir das Produkt nicht gefällt, dann kaufe ich es eben nicht, dann gehe ich nicht wählen.

Wie ließe sich ein großes politisches Projekt mit der Kraft zur Bündelung umschreiben?

Die Ironie ist, dass dieses große Projekt, das unsere Gesellschaften so nötig hat, direkt vor unserer Nase liegt. Das ist eine Gesellschaft, die aus beinhartem Eigeninteresse solidarisch sein muss und lernt, sich umzustellen: auf eine Maschinenökonomie, auf ein unbedingtes Grundeinkommen, auf andere demokratische Prozesse - das liegt direkt vor uns.

Das wird mit einem gewissen Verzicht einhergehen müssen.

Ja. Dieses dringend benötigte Projekt direkt vor der Nase würde erfordern, dass wir bereit sind, etwas dafür aufzugeben. Doch das haben wir Menschen konsequent ausgeredet. Das wirklich Kritische ist: Jetzt sind wir noch wohlhabend, haben noch Einfluss, jetzt könnten wir diese Transformation noch gestalten. Die Fundamente dieses Wohlstands und dieser Handlungsfreiheit, die bröckeln jeden Tag etwas weiter ab. Wenn der Großteil der Menschen begreift, dass unbedingt etwas getan werden muss, weil auch bei uns das Leben viel schwieriger geworden ist, könnte es zu spät sein, denn Panik ist immer ein schlechter Ratgeber. Schaffen wir es zu begreifen, dass wir jetzt radikal etwas tun müssen, bevor wir gar nichts mehr tun können? Ich weiß es nicht.

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Shalini Randeria: „Es wäre sehr heilsam, manchmal nichts zu tun“

21.10.2015

Wien (APA) - „Was ist zu tun?“ Diese Frage stellt der Autor und Historiker Philipp Blom („Der taumelnde Kontinent“) seinen Gästen in der Reihe „Carte Blanche“ im Burgtheater-Kasino. Shalini Randeria, seit Jahresbeginn Rektorin des Wiener Instituts für die Wissenschaften vom Menschen (IWM), antwortete gestern, Donnerstag, Abend trocken: „Es wäre sehr heilsam, manchmal nichts zu tun.“


Hilfreicher wäre mitunter, drüber nachzudenken, was das eigene Tun in der Vergangenheit für Probleme bereitet habe, sagte die Sozialanthropologin auch mit Blick auf die gegenwärtigen Migrationsströme, die zum Teil Resultat europäischen Handelns der vergangenen Jahre und Jahrhunderte seien.
Blom sieht in der 1955 in Washington D.C. geborenen Tochter eines indischen Paares, die in Delhi, Oxford und Heidelberg studierte und seit 30 Jahren im deutschsprachigen Raum lebt und arbeitet, ein Beispiel für ein künftiges Europa der Vielfalt. Europa sei zu sehr dem binären Denken verhaftet, meinte Randeria: „Es gilt Entweder-oder statt Sowohl-als auch.“ Sie selbst könne Identitäten als Amerikanerin, Inderin und Europäerin mühelos in sich vereinen, ohne sich für eine entscheiden zu müssen, versicherte sie.

„Wie man an Indien sieht, muss es nicht die Sprache sein, die ein Land zusammenhält“, sagte Randeria. Was es in Indien stattdessen sei, fragte Blom nach. Man einigte sich auf „Cricket und die Wahlen“ - wobei Randeria festhielt, dass in Indien fast ausschließlich die ärmeren Schichten zur Wahl gingen. Der Rest wisse, wen man anrufen oder bestechen müsse, um seine Anliegen durchzusetzen.
Der vorherrschende Eurozentrismus verhindere auch, dass man sich etwa über die Ausweitung chinesischer Interessen durch umfangreiche Ankäufe landwirtschaftlicher Nutzflächen in Europa ernstlich Gedanken mache, hieß es. Stattdessen gebe es noch immer den europäischen Reflex, „Lehrmeister der Welt zu sein“, sagte Randeria, die als Vision des Zusammenlebens der Kulturen die „Salad Bowl“ dem „Melting Pot“ vorzieht: „Ich möchte keinen Einheitsbrei.“ Es gebe allerdings Grenzen der Toleranz, für die man eine differenzierte Debatte brauche. Verkürzt gesagt: Kopftuch geht, Vollverschleierung geht nicht.
In die Debatte um Staats- und Privateigentum möchte Randeria, deren eigene Forschungen in indischen Dörfern bei der Kaste der Unberührbaren begonnen hatten, den Begriff des Gemeinschaftsbesitzes („the commons“) forcieren. Dinge, die sich dafür anböten, seien etwa Wasser, Patente auf biogenetisches Material wie Saatgut, aber auch bestimmte Daten, sagte die Wissenschafterin.

"Wissenschaftlich fundierte Endzeitrhetorik"

1.3.2021

Telepolis - 01. März 2021- Teseo La Marca

Wie gestalten wir die Welt nach Corona? Um darauf antworten zu können, müssen wir zunächst unser Naturverständnis ändern, sagt der Schriftsteller und Historiker Philipp Blom

Der Trend, dass Politik hauptsächlich Krisenmanagement ist, lässt sich spätestens seit der Finanzkrise feststellen. Aber erst mit der Pandemie erreichte dieser Modus seinen Höhepunkt. Das mag zwar zielführend sein, um akute Herausforderungen wie die Überlastung des Gesundheitssystems zu meistern; damit sich die Krisen in Zukunft nicht noch weiter häufen, ist jedoch ein langfristiger Kurswechsel gefragt.

Wohin es dann gehen soll, ist die Frage, mit der sich Philipp Blom beschäftigt. Wenn man Blom auf ein Berufsbild festlegen wollte, täte man sich schwer. Blom lebt heute als Schriftsteller, Historiker, Journalist und Übersetzer in Wien. Zudem arbeitet Blom gerade an einem Roman für Kinder. Die Themen? "Eigentlich sehr ähnlich wie in diesem Interview", sagt Blom. Keine typischen Kinderthemen also. Es sind jedoch Themen, die die Kinder von heute sehr bald betreffen werden. Klimawandel, Ressourcenverbrauch, die Zukunft der Demokratie und die alte Frage: Was macht ein Menschenleben zu einem guten Menschenleben?

Herr Blom, wenn man Zeitungen liest und Talkshows anhört, ergibt sich der Eindruck, jeder und jede will aus der Zeit der Pandemie etwas gelernt haben. Können wir – als Gesellschaft – aus den Ereignissen des letzten Jahres wirklich etwas lernen?
Philipp Blom:Können – ja. Ob wir es tun werden, ist eine andere Frage. Man könnte lernen, nicht mehr gegen das Ökosystem dieses Planeten zu leben, sondern darin. Man könnte sehen, dass die Pandemie große soziale Klüfte offengelegt hat und dass die Gesellschaft besser funktionieren würde, wenn man diese Lücken schließt.Wir haben auch erfahren, dass wir unserer eigenen Sterblichkeit und existenziellen Unsicherheit wieder ein Stück nähergekommen sind. Vor allem haben wir aber etwas erlebt, was bisher undenkbar war. Jeder Mensch, der den globalen Hyperkapitalismus mit seinen zerstörerischen Nebenwirkungen kritisiert hat, hat immer zu hören bekommen, dass wir diese Maschine nicht anhalten können. Dann haben wir sie aber angehalten. Aus politischen und humanitären und nicht aus wirtschaftlichen Gründen. Die Tatsache, dass dies möglich war, wird auch unsere zukünftigen Debatten prägen.

Dabei ist alles – die staatlichen Hilfen, die Recovery Funds – auf ein Wiederhochfahren der Wirtschaft ausgelegt. Der Stillstand ist nur vorübergehend, während der Klimawandel doch eine langfristige Entschleunigung von Produktion und Konsum verlangt.

Philipp Blom: Man darf auch nicht vergessen, wie wichtig eine funktionierende Wirtschaft ist. So kritisch ich gegenüber dem globalen Kapitalismus bin, so wichtig ist es einzusehen, dass die Prinzipien, nach denen liberale Gesellschaften formiert sind, nur auf dem Rücken eines erheblichen Wohlstands entstehen konnten. Auch die westeuropäischen Demokratien sind so liberal geworden, weil dank fossiler Brennstoffe ein breiter Wohlstand geschaffen werden konnte.Es wäre naiv zu glauben, dass wir eine nachhaltige Kreislaufwirtschaft mit weniger Wohlstand errichten können, ohne dass dies politische und soziale Konsequenzen nach sich zieht.

Öko-Diktatur darf und kann keine Antwort sein


Müssen wir uns also entscheiden – zwischen einer Demokratie, die nach und nach die eigene Lebensgrundlage zerstört, und einem ökologisch nachhaltigen Autoritarismus?

Philipp Blom: Das Problem an der zweiten Variante ist, dass sie den guten König voraussetzen würde. Das wäre naiv: Der weise Öko-Diktator stellt sich oft als nicht so weise heraus, wie er selbst zu sein glaubt. Und noch schwieriger ist das Problem seiner Nachfolge.Ein britischer Parlamentarier, der aus sozialistischer Überzeugung seinen Adelstitel aufgegeben hat, hat mir einmal gesagt: Entscheidend ist für die Demokratie nicht, wie wir einen Machthaber wählen, sondern wie wir ihn wieder loswerden, ohne Blut zu vergießen.

Eine Idee, die ursprünglich vom Philosophen Karl Popper stammt.

Philipp Blom: Und eine sehr wichtige Idee. Die Öko-Diktatur darf und kann keine Antwort sein. Wir erleben zwar, wie schwierig es ist, einen demokratischen Konsens zu schaffen, um globale und drängende Herausforderungen angehen zu können. Zur demokratischen Grundstruktur darf es aber keine Alternative geben.Es kommt darauf an, die Strukturen und Prozesse, die wir jetzt haben, so zu verändern, dass sie partizipativer, kleinteiliger und unmittelbarer werden. Aktuell haben sie eher die Tendenz, zu einem Demokratie-Theater zu werden, wo eine Elite in erster Linie wirtschaftliche Interessen, die dem Gemeinwohl entgegenstehen, vertritt und so dem Wahlvolk ein Aufregungspotential bietet, das populistische Parteien ausnutzen.

Wenn Sie die aktuellen Herausforderungen – Klimawandel, Artenschwund, Pandemien, Demokratiedefizit – als Historiker betrachten: Gab es schon einmal vergleichbare Krisen in der Geschichte oder hat die Zeit, in der wir leben, etwas Einzigartiges?

Philipp Blom: Ich denke, dass es tatsächlich eine in der Geschichte sehr einzigartige Situation ist. Das heißt nicht, dass es nicht schon oft eine ähnliche Rhetorik gegeben hat. Endzeitmomente gab es immer wieder. Jetzt wird diese Endzeitrhetorik aber zum ersten Mal durch fundierte Wissenschaft und Forschung untermauert.Zum ersten Mal haben wir es mit einer existenziellen Herausforderung für die ganze Spezies Mensch zu tun. Es ist nicht so, dass die Römer oder auch sämtliche Naturvölker behutsamer mit ihrer Umwelt umgegangen sind; aber sie hatten schlicht nicht die Mittel, Zerstörungen anzurichten, deren Auswirkungen global spürbar sind. Diese Möglichkeit ergab sich erst durch die Verwendung fossiler Brennstoffe.

Mit 3.000 Jahren Kulturgeschichte Schluss machen


Damit wir dieses Zerstörungspotential nicht weiter missbrauchen – so fordern Sie – brauchen wir ein neues Naturverständnis. Was für ein Naturverständnis?

Philipp Blom: Es ist eigentlich kein neues, sondern ein sehr altes Naturverständnis. Um es mal ganz brutal zu sagen: Ich glaube, es ist an der Zeit, mit 3.000 Jahren Kulturgeschichte Schluss zu machen. Diese 3.000 Jahre sind geprägt von der gesellschaftlichen Ambition, die Natur zu dominieren. Dafür steht der biblische Satz: Macht euch die Erde untertan.Davor war das menschliche Verhältnis zur Natur bildhaft durch eine Vielzahl von Göttern ausgedrückt. Was immer der Mensch tat, ob er in See stach oder einen neuen Acker bewirtschaftete, er musste sich mit den zuständigen Göttern arrangieren.Im Grunde sagt das nichts anderes aus, als dass der Mensch Teil eines natürlichen Systems und in eine Vielzahl von Interessen verstrickt ist. Was immer Menschen taten, es hatte Auswirkungen auf andere Bereiche der Natur, die durch Götter und Dämonen verkörpert waren, und umgekehrt. Mit diesen Kräften galt es, einen Ausgleich zu finden.

Dann kam mit der Aufklärung die Wissenschaft …

Philipp Blom: Und das biblische Bewusstsein der Naturbeherrschung bekam ein säkulares Kleid. Die Idee der Welt- und Naturbeherrschung war während der Aufklärung sehr stark – was sich auch im Kolonialismus ausdrückte. Die Vorstellung, dass wir außerhalb der Natur stehen und die Natur kontrollieren sollen, bleibt bis heute prägend.Pandemien und der Klimawandel zeigen jetzt aber: Das war eine bronzezeitliche Illusion, die mit einem Naturverständnis des 21. Jahrhunderts nicht mehr zu vereinen ist. Wir begreifen langsam, dass wir mitten in der Natur stehen, dass alles miteinander verbunden ist. Wir sind nur ein Teil eines Ganzen – und nicht einmal ein besonders wichtiger Teil: längst nicht so wichtig wie Plankton oder Ameisen zum Beispiel.

Woher kommt diese Erkenntnis?

Philipp Blom: Über die Sprache der Wissenschaft entdecken wir jetzt wieder, was wir früher intuitiv oder durch die Metapher von Gottheiten und Dämonen begriffen haben. Wir verstehen zum Beispiel, dass der menschliche Organismus im Schnitt mehr nicht-menschliche als menschliche Zellen in sich hat.Weil er ein Mikrobiom in sich hat, welches nicht nur ein wenig bei der Verdauung hilft, sondern ein komplexes Kommunikationssystem im menschlichen Körper darstellt, das über verschiedenste Aspekte unserer Persönlichkeit, unserer Fähigkeiten und unseres Krankheitsgeschehens Einfluss hat.In anderen Worten: Wir verstehen langsam, dass wir nicht die über der Natur erhabene Krone der Schöpfung sind, sondern dass wir Primaten sind, die aus bestimmten Gründen besonders erfolgreich wurden und nun dabei sind, den eigenen Erfolg durch Übererfolg umzukehren.

Die Natur wird es regulieren


In der Natur ist eigentlich alles darauf ausgerichtet, die Situation, wo eine Spezies über alle anderen dominiert, zu vermeiden. Sind wir ein Betriebsfehler der Evolution?

Philipp Blom: Naja, dieser Betriebsfehler dauerte bislang nur 70 Jahre oder, wenn wir großzügig sind, 500 Jahre. Für die Natur ist das kein ernstzunehmender Zeitraum. Sie wird das wieder regulieren. Die Bevölkerungsentwicklung, der Ressourcen- und der Energieverbrauch können nicht so weitergehen, wie sie es zurzeit tun. Und die Natur hat da eine relativ einfache Art, mit solchen überflorierenden Spezies umzugehen.

Sie vergleichen den industrialisierten Menschen mit Hefe. Was haben wir mit diesen Mikroorganismen gemeinsam?

Philipp Blom: Als Gesellschaften und Individuen sind wir zweifellos komplexer und aufregender als Hefepilze, wir hatten Platon, Marie Curie und Beethoven. Und doch verhalten wir uns als Spezies exakt wie Hefe, das heißt, wir fressen alles, was wir vorfinden, bis wir alle Ressourcen aufgebraucht haben und an den eigenen Ausscheidungen ersticken. Bei der Hefe genießen wir das Resultat des darauffolgenden Populationskollapses übrigens als Brot oder Wein.

Und es gibt wirklich nichts, was wir besser als die Hefepilze machen können?

Philipp Blom: Ehrlich gesagt, der Vergleich mit der Hefe ist für mich eine intellektuelle Beleidigung. Ich hatte gehofft, dass wir nach 300 Millionen Jahren Evolution ein bisschen was dazugelernt hätten. Ich habe den Gedanken einmal mit einer befreundeten Biologin besprochen und sie meinte, der Vergleich müsste ja eigentlich noch weitergehen, denn die Hefezellen, die den Kollaps überleben, ändern ihren Metabolismus, um in der neuen Umgebung leben zu können.Als Menschen kommt es nun darauf an, dass wir unseren Metabolismus – also unsere Wirtschaft, unsere Kultur, unseren Lebensstandard – schon vor dem Kollaps ändern. Die große Frage der nächsten Jahrzehnte ist: Können wir unseren bereits Ressourcenverbrauch anpassen, bevor es zum großen Zusammenbruch kommt?

Können wir das?

Philipp Blom: In erster Linie hängt alles, was wir tun werden, an unserem Naturverständnis. Wenn wir uns wieder als Teil eines größeren Systems begreifen, werden wir lernen, auch ganz anders über Wirtschaft und Wohlstand zu denken. Die klassische Wirtschaftswissenschaft sprach über Rohstoffe, Kapital, Logistik, Investitionen, hat sich aber nie mit den natürlichen Grundlagen beschäftigt.Sauberes Wasser, atembare Luft und Biodiversität haben in den Rechnungen der Ökonomen bislang keine Rolle gespielt. Der Prozess wurde immer außerhalb der Natur gedacht. Jetzt begreifen wir aber, dass sie der entscheidende Teil der Gleichung ist und wir sie in unsere Rechnungen miteinbeziehen müssen.

Corona-Pandemie: Verstörende Präsenz des Todes


Ist die Angst vor dem Virus, und damit die Angst vor dem Tod, die in der Pandemie unser wirtschaftliches und soziales Leben lahmgelegt hat, möglicherweise auch ein Ausdruck dieses gestörten Verhältnisses zur Natur?

Philipp Blom: Ja, natürlich. Der Beherrschung der Natur gehört die Unterscheidung zwischen Natur und Kultur zugrunde. Die hat es auch möglich gemacht, zwischen verschiedenen Klassen von Menschen zu unterscheiden. Jene, die der Natur näherstanden, mussten im Namen der Zivilisation gezähmt und beherrscht werden. Diese Machtausübung macht Menschen aber auch einsam. Sie drängt außerdem den Tod an den Rand, der Tod ist nur noch ein weiteres Problem, das mit Technik gelöst oder wenigstens aufgeschoben werden kann.

Wie äußert sich das?

Philipp Blom: Etwa dadurch, dass Alte tendenziell am Rand der Gesellschaft leben; dass wir kaum noch Rituale haben, um mit dem Tod umzugehen; dass unsere ganze Werberhetorik davon ausgeht, dass wir ewig jung und ewig cool sind. Wir haben uns von der Akzeptanz der Zerbrechlichkeit des Lebens sehr entfernt.Und nun kommt dieser Gevatter Tod, den wir eine Zeit lang erfolgreich weggesperrt hatten, plötzlich wieder um die Ecke und ist so stark präsent in unserem Alltag. Das entspricht nicht dem Anspruch der Beherrschbarkeit, der gewissermaßen ja auch immer ein Anspruch der Unsterblichkeit war.

Im letzten Jahrzehnt hat man den Eindruck haben können, jegliches politisches Handeln sei nur noch Krisenmanagement – jetzt mit Corona umso mehr. Ist es an der Zeit, dass die Politik wieder Visionen entwirft?

Philipp Blom: Visionen können etwas Wunderschönes sein, sie können aber auch das mit Abstand Todbringendste sein. Interessanter wäre für mich ein wissenschaftlicher Zugang: Wir wissen sehr viel über die artgerechte Haltung jeder Tierart, die uns bisher untergekommen ist – außer Homo Sapiens. Weil wir uns so ungern selbst als Tierart verstehen.Wir haben uns über Jahrhunderte damit beschäftigt, Gesellschaftssysteme zu entwerfen, die wir für ideal halten, und haben dann versucht, die Menschen diesem Ideal anzupassen – anstatt es umgekehrt anzugehen. Wir wissen im Grunde nicht, was wir als Tierart brauchen, um einigermaßen friedlich und solidarisch miteinander leben zu können. Auf Grundlage dieses Wissens sollten politische Zukunftsentwürfe aber gestaltet werden.

Telepolis Artikel lesen

Vor 330 Jahren war ganz Europa ein eisiges Reich

10.3.2017

Von Christoph Arens | welt.de

Lange Winter und kurze, kühle Sommer: Im 17. Jahrhundert änderte sich das Klima in Europa dramatisch. Hungersnöte waren die Folge. Der Historiker Philipp Blom hat erforscht, wie der Kontinent die „Kleine Eiszeit“ überlebte.

Was passiert in einer Gesellschaft, wenn sich das Klima ändert? Wer stirbt, wer überlebt? Was bricht zusammen, und was wächst? „Es wirkt wie ein sadistisches Experiment“, erdacht von einem „böswilligen Dämon oder einem außerirdischen Wissenschaftler, ein Tierversuch mit ganzen Gesellschaften“, schreibt der Historiker Philipp Blom in seinem neuen Buch „Die Welt aus den Angeln.“

Das Experiment ist mit Blick auf den gegenwärtigen Klimawandel hochaktuell. Doch der in Wien lebende Blom schaut zurück und hat eine Geschichte der Kleinen Eiszeit von 1570 bis 1700 geschrieben. Ein Lehrstück, das Gewinne und Verluste offenbart. Eine Fallstudie, die die Geburt der modernen Welt mit dem Klimawandel verbindet.

„Etwas Bedrohliches war im Gange“, konstatiert Blom mit Blick auf die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert. Lange Winter, kurze, kühle Sommer: „Die Themse war bis nach London hinein so dick zugefroren, dass Marktstände auf dem Eis errichtet werden konnten.“ Tiefer Schnee bedeckte auch Teile Italiens und Spaniens. „Europa war ein eisiges Reich.“ Und die Maler von Brueghel bis Averkamp entdeckten das Genre der Winterlandschaften.

Zwischen 1570 und 1685 gab es einen Rückgang der Durchschnittstemperatur um zwei bis drei Grad. Wochenlanger Regen und Dürre brachten Hungersnöte, steigende Brotpreise führten zu Aufständen. Erst 80 Jahre später erreichten die Ernten in Europa wieder die Mengen von 1570.

„Es ist unglaublich, wie sehr sich die europäischen Gesellschaften zwischen 1600 und 1700 innerhalb von drei Generationen verändert haben“, bilanziert Blom. „Eigentlich ist es ein Naturgesetz: Wenn sich unsere Umweltbedingungen ändern, müssen auch wir uns ändern. Und jetzt sind wir wieder in einer Zeit, die auf einen großen Klimawandel zugeht.“

Die Antwort der Menschen damals wandelte sich: Zunächst interpretierten sie die bedrohlichen Wetterkapriolen als Strafe Gottes. „Wenn es eine schlechte Ernte gab, bedeutete das: Wir müssen Bußprozessionen machen.“ Nicht von ungefähr ist diese Zeit die Hochphase der Hexenverbrennungen. Doch die religiöse Erklärung verlor immer mehr an Plausibilität.

Die Menschen begannen, die Lösungen in der Natur zu suchen. Botaniker probierten neue Anbaumethoden aus, experimentierten mit Kartoffeln und Tomaten. Ihre Erkenntnisse wurden europaweit publiziert. Die seit Jahrhunderten unveränderte Landwirtschaft wurde effizienter.

„Das war ein Modernisierungsschub durch Wissen“, stellt Blom fest. Im Mittelalter waren es allein die Mönche, die miteinander diskutierten und lesen konnten. Jetzt, im Zeitalter der Aufklärung, entstand in den Städten ein öffentlicher Raum für Debatten und Wissenschaft. Das Bürgertum stieg auf. Und eine neue Wirtschaftstheorie setzte sich durch. Europa erfand laut Blom ein neues Rezept, um mächtig zu werden: Kapitalismus und Wirtschaftswachstum – das allerdings auch auf Ausbeutung beruhte.

Denn Spanier, Portugiesen, Niederländer und Briten eroberten die Welt, gründeten Kolonien, raubten Gold und Sklaven. Zugleich entwickelten sich die Ideen der Toleranz und der Menschenrechte. Kaufleute wurden die Agenten der Globalisierung. Amsterdam, im 16. Jahrhundert eine kleine, unbedeutende Stadt, importierte Getreide aus dem Baltikum und verkaufte es in Europa – eine Ursache für das anbrechende Goldene Zeitalter der Niederlande.

Immer mehr Wachstum, immer mehr Ausbeutung: Für Blom stößt dieses Rezept heute an seine Grenzen. Genau jene Strategien, die sich während der Kleinen Eiszeit entwickelt haben, seien Ursache für den nächsten, den heutigen Klimawandel. „Mit Wirtschaftswachstum wird man die Krise nicht mehr bewältigen können“, meint der Autor. „Die Flüchtlinge sind ein Symptom dieser Veränderung. Ich glaube nicht, dass wir schon genug darüber nachdenken.“

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Politik hat sich von Idee der Zukunftsgestaltung verabschiedet

9.5.2016

Was können wir aus der turbulenten Geschichte der "Kleinen Eiszeit" für das politische Leben von heute lernen? Diese Frage beantwortet der renommierte Wiener Zeithistoriker Philipp Blom ("Der taumelnde Kontinent") ab 19 Uhr im Medien Kultur Haus Wels.

OÖNachrichten: Ihr Eröffnungsvortrag trägt den Titel "Das Eiserne Zeitalter" und beschäftigt sich mit den gesellschaftspolitischen Auswirkungen der "Kleinen Eiszeit" von 1570 bis 1650. Warum bitte, sollte uns das im Jahr 2016 interessieren?

Philipp Blom: Sich die "Kleine Eiszeit" anzusehen, ist ein faszinierendes historisches Experiment. Was passiert, wenn man eine Gesellschaft nimmt und die natürlichen Umstände verändert? Zum Beispiel die Temperatur um zwei Grad senkt. Was blüht dadurch, was vertrocknet? Wir befinden uns mitten in solch einem Prozess des Klimawandels. Auch wenn dieser, im Gegensatz zu damals, von uns Menschen selbst verursacht ist. Im 17. Jahrhundert war der Temperaturabfall extrem, vier bis fünf Grad. Das änderte einfach alles.

Inwiefern?

Die Landwirtschaft war extrem betroffen. Diese war noch sehr ineffizient, basierte quasi nur auf Getreide. In einer spätfeudalen Gesellschaft hängt die Landwirtschaft sehr stark mit der Herrschaft zusammen. Die Bauern leben vom Land, die Adligen von den Bauern. Ein ganzes politisches, soziales und kulturelles System wurde durch kollabierende Ernten massiv aus der Balance gebracht.

Wie hat sich Europa aus dieser Krise gerettet?

Europa hat etwas Neues erschaffen, die Welt des Kapitalismus. Neben dem Handel setzte man verstärkt auf die Geldwirtschaft. Vor allem erfand man ein neues gesellschaftliches Modell: Wirtschaftswachstum, das auf Ausbeutung beruht. Ausbeutung gab es zwar schon immer, aber vor dem 16. Jahrhundert war Wirtschaftswachstum als gesellschaftliches Ziel unbekannt. Die Leute wollten zwar reicher werden, aber einen Staat zu betreiben, um die Wirtschaft anzukurbeln, das war neu. Die Ausbeutung von Mensch und Natur war das Rezept, mit dem sich Europa aus der Krise gerettet hat. Die Lösung des 17. Jahrhunderts stürzt uns heute in die Krise.

Was ist die Ursache?

Kein moderner Staat glaubt, dass er erfolgreich ohne Wirtschaftswachstum sein kann. Das ist aber ein System ohne Zukunft. Es gibt nicht mehr genug zum Ausbeuten, weder bei den Menschen noch in der Natur. Wenn sich, wie im Moment, das Klima wandelt, heißt das ja nicht, dass es im Sommer halt ein bisschen wärmer wird. Dieser Raubbau an der Natur und den sozialen Strukturen zieht massive Umwälzungen nach sich. Die Migrationsströme sind die nachdrücklichsten Beispiele. Es ist notwendig, die Frage nach unserer Zukunft, nach der Berechtigung für unsere Existenz zu stellen.

Wer wird den Mut zur großen Idee aufbringen? Die Politik?

Die Politik hat sich von jeder Idee der Zukunftsgestaltung verabschiedet und ist nur noch dabei, die Gegenwart irgendwie zu verwalten. Initiativen können nur von außerhalb des bestehenden Systems kommen. Die Frage ist: Wann ist der Leidensdruck hoch genug? Und: Ist unser Handlungsspielraum dann noch ausreichend? Im Moment scheint es nicht, als wollten wir unsere Chance nutzen.

Interview online lesen
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Die kleine Eiszeit und die Folgen für die Moderne

2.4.2017

Thomas Palzer / Deutschlandfunk

Was hat die Eiszeit mit der Gegenwart zu tun? Eine ganze Menge, glaubt man Philipp Blom. Er setzt sich in seinem neuen Werk mit dem Klimawandel im 17. Jahrhundert auseinander, bringt die gesellschaftlichen Folgen, die daraus entsprungen sind, aber auch in eine diskrete und eindringliche Beziehung zur Gegenwart.

Wenn wir den Begriff "Eiszeit" hören, denken wir zunächst an ein erdgeschichtliches Geschehen, dass tausende oder zehntausende Jahre zurückliegt. Ein gefährlicher Trugschluss, der vielleicht auch dafür verantwortlich zu machen ist, dass wir den gegenwärtigen Klimawandel noch immer für etwas halten, dessen Folgen erst in einer Zukunft spürbar werden, von der wir selbst nicht mehr betroffen sind.

Der Zeithorizont des Menschen scheint zu begrenzt, als dass Risiken ernst genommen werden könnten, die jenseits der eigenen Lebensspanne liegen. Dabei ist die letzte Eiszeit gerade mal 300 Jahre her. Die gut 130 Jahre zwischen 1570 und 1700 hat die historische Klimatologie "Kleine Eiszeit" getauft. In historischen Maßstäben ist der Zeitraum, der zwischen uns und ihr liegt, vernachlässigbar. Die Anfänge der Kleinen Eiszeit gehen auf die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts zurück:
"1588 berichtete der englische Historiker William Camden, dass die Heringsschwärme, die früher in den kühleren Gewässern Hunderte von Kilometern nördlich auf hoher See gefangen worden waren, jetzt zur Freude der Fischer direkt vor der Küste auftauchten. Die Ozeane kühlten sich spürbar ab. Pottwale, die ihrer Beute folgten, strandeten an der seichten Küste der Nordsee und arktische Stürme fielen in europäische Gewässer ein."
Das schreibt der Philosoph und Historiker Philipp Blom in seinem soeben publizierten neuesten Werk mit dem Titel "Die Welt aus den Angeln. Eine Geschichte der Kleinen Eiszeit von 1570 – 1700." Detailkundig und aus drei großen Perspektiven heraus geht der Autor darin der Frage nach, welche Auswirkungen eine Änderung des Klimas auf die Gesellschaft hat – und diese Frage stellt er im Hinblick auf den Klimawandel, von dem er selbst betroffen ist. Das Buch besitzt also mehr als alle anderen Bücher von Blom unleugbar Gegenwartsbezug.
Spielt die "Kleine Eiszeit" heutigentags für die Errechnung von Klimamodellen eine wichtige Rolle, nimmt Blom sie als Narrativ, um an ihm die nahe Zukunft auszubuchstabieren. Was passiert mit unserer Gesellschaft, wenn der Klimawandel in vollem Umfang eingetreten sein wird?
"Gegen Ende des 16. Jahrhunderts suchte man die unmittelbaren und mittelbaren Antworten auf die Veränderung der Natur und die von ihr verursachte Krise der Landwirtschaft immer häufiger in der Religion. Die offizielle Interpretation natürlicher Ereignisse lag in den Händen von Theologen, die in Berichten über Kometen, Erdbeben und Überflutungen Gottes strafende Gerechtigkeit zu erkennen glaubten."
Weltuntergangsfantasien treiben in jenen Jahrzehnten ihre giftigen Blüten aus, gestützt von dem weit verbreiteten Gefühl, die Welt sei aus den Fugen. Unter Klimaforschern wird von der "Kleinen Eiszeit" erstmals in den Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts gesprochen. Wie die Daten verraten, kam es zwischen 1570 und 1685 zu einem durchschnittlichen Temperaturrückgang um zwei Grad Celsius – was nicht nach viel klingt, aber einschneidende Veränderungen nach sich zog.

Es kam zur Umwälzung der Strömungen in den Ozeanen und zu extremen Wettereignissen. Anfang 1684 erlebte Europa den härtesten Winter seit Menschengedenken. Überall auf dem Kontinent wuchsen die Gletscher – und der Permafrost auf Grönland kehrte zurück. Das veränderte Wetter hatte überdies katastrophale Ernteausfälle zur Folge. Inzwischen weiß man, dass im Echo der Unwetter, Missernten, Hungerkrisen und Epidemien wiederum Massenhysterien entfacht wurden, die ihrerseits die Hexenprozesse ventilierten – beides steht eindeutig miteinander in Verbindung, was schon die damaligen Zeitgenossen ahnten.
Philipp Blom schreibt: "Bemerkenswert, wenn auch nicht überraschend, ist auch die Korrelation zwischen diesen Frostjahren und sozialen Protesten und gewaltsamen Rebellionen wegen hoher Getreidepreise, die sich im ganzen Land ausbreiteten. ... Gegen Ende des 16. Jahrhunderts häufen sich diese Vorfälle."

Revolution des Wirtschaftens


Ein besonderes Augenmerk richtet Blom auf "die große Transformation", wie es der Wiener Ökonom und Sozialhistoriker Karl Polanyi genannt hat – auf den wirtschaftlichen Wandel, der sich während der "Kleinen Eiszeit" in Europa vollzieht. Polany zeigt, dass es in feudalen Gesellschaften für die Bauern keinerlei Anreiz gab, effektiver zu produzieren, weil der Überschuss der Ernte in Form von Steuern an den Landesherrn abgeführt werden musste. Das Ziel wirtschaftlicher Aktivität lag in ständischen Gesellschaften vorrangig im Statuserhalt, in Ehre und Kapital. Doch im 16. und 17. Jahrhundert ändert sich das. Kaufmännisches Handeln dynamisiert das Marktgeschehen, weil es den finanziellen Gewinn und sozialen Aufstieg zum Ziel hat. Anders als der feudale Adel orientiert sich der Kaufmann am Profit.
"Wenn wir das Klimageschehen der 'Kleinen Eiszeit' miteinbeziehen, lässt sich Polanyis Argument in einem wichtigen Punkt ergänzen: Das soziale und wirtschaftliche System des feudalen Europa basierte ganz auf Landbesitz und lokaler Getreideproduktion. Dies war der zentrale, verwundbare Punkt. Als die Temperaturen weit genug abgesunken waren, um die Getreideproduktion oft und empfindlich zu stören, geriet die wirtschaftliche Grundlage und mit ihr die gesamte Ordnung Europas ins Wanken. Die Europäer waren gezwungen, Alternativen zu einer Lebensweise zu finden, die sich seit mehr als einem Jahrtausend kaum verändert hatte."
Mit dem Klima und der Natur veränderte sich auch das gesellschaftliche Gefüge. Neue Wege mussten gefunden werden, um der Herausforderung einer scheinbar unnatürlich gewordenen Welt zu begegnen. Die Alternative, die die Europäer fanden, lautet auf den Namen Kapitalismus - Domäne und Sphäre des Kaufmanns. Nicht ganz unähnlich den Prozessen, die durch die Globalisierung in der Gegenwart eingeleitet wurden, drang diese neue Form des Wirtschaftens in Form des Fernhandels langsam in die strikt regulierten Märkte vor und setzte deren lokale Regeln außer Kraft.

Notwendig geworden war der Fernhandel durch die katastrophalen Ernten der 1590er Jahre und die daraus resultierende Landflucht der hungernden Bevölkerung. Die Kornspeicher waren leer und die großen Städte zunehmend auf den Import angewiesen – zumal sie dazu beitrugen, ihre Bewohner in Konsumenten zu verwandeln, die Nahrung, Wohnung, Kleidung nicht mehr selbst produzierten oder durch Tausch erwarben, sondern kaufen mussten. Auf diese Weise entstand die urbane Welt – und Hafenstädte wie Amsterdam entwickelten sich zu internationalen Handelszentren, in denen auch der Buchdruck gedieh.
"Die allmähliche Neuordnung der Landwirtschaft durch Gelehrte, Bücher und Gutsverwalter wie auch der Aufschwung des Handels und die professionalisierte Verwaltung von Ländereien, Steuern und Gütern erzählen noch eine andere Geschichte: Um 1600 lässt sich fast überall in Europa ein wesentlicher Anstieg der Alphabetisierung feststellen. Schulen wurden gegründet, immer mehr Kinder (meist Jungen) wurden in Lesen, Schreiben, Rechnen und in den Klassikern unterrichtet und so entstand eine wachsende Klasse von Menschen, die imstande waren, eine Revolution des europäischen Wissens in Gang zu bringen."

Soziale Verwerfungen


"Der Kaufmann ist aber nicht der einzige gesellschaftliche Typus, den das 17. Jahrhundert mit gestärktem bzw. erneuertem Profil hervorbringt. Daneben sind es der Wissenschaftler, der privat niedergelassene Advokat und der Gelehrte, die die soziale Bühne betreten."
Überhaupt wurden im 17. Jahrhundert die Fundamente gelegt für das, was wir die moderne säkulare Welt nennen. Nach dem Gemetzel des Dreißigjährigen Krieges löste sich der Staat aus der Umklammerung der Religion, die nach dem Westfälischen Frieden zwar ihrerseits konfessionell gespalten war, deren beide Konfessionen aber lernten, sich wechselseitig zu tolerieren. Galilei, Newton, Descartes, Montaigne, Giordano Bruno, Spinoza und Leibniz halfen dem Menschen, sich aus der Abhängigkeit von der Natur und von magischen Weltbildern zu lösen.

Man suchte nach Gewissheit – und das führte neben dem durch den klimatischen Wandel bedingten Anstieg der Hexenverbrennungen im gleichen Zug zu deren Ende. Da nämlich von den damaligen Universitäten, die der cartesianischen Trennung von Körper und Geist folgten und den Anspruch der Vernunft absolut setzten, zunehmend Gutachten eingeholt wurden, verlor der Glaube an den leibhaftigen Teufel zumindest in den protestantischen Gebieten Deutschlands nach und nach an Zuspruch. Er wurde als Vorurteil des Volkes abgetan, den man genährt sah von Altarbildern und den Druckmedien, welche jene massenhaft verbreiteten. Ein Fürst, so die Empfehlung der Gelehrten, sollte am besten keine Klagen wegen Hexerei mehr annehmen.
"In einer Welt, in der politische Interessen hauptsächlich mit Waffengewalt durchgesetzt wurden, sah sich jede Staatsmacht, auch jene, die selbst nicht an Feldzügen und Territorialgewinnen interessiert war, potenziellen Angriffen ausgesetzt. Das zwang alle Herrscher, zwecks Abschreckung und Allianzbildung militärische Macht zu projizieren. Die Finanzierung der Kriege war also das vordringliche Problem jeder Regierung."

Zumal die Kriege erheblich teurer geworden waren, wie die Schlacht bei Nördlingen als dem entscheidenden Moment im Dreißigjährigen Krieg gezeigt hatte. Über Erfolg oder Niederlage entschieden nicht mehr Landsknechte, Schwerter und Hellebarden, sondern Musketen und Kanonen, strategische Gefechtsstellungen und disziplinierte Einheiten. Das hatte erhebliche Konsequenzen. Soldaten mussten über längere Zeiträume kaserniert, ernährt, ausgebildet und bezahlt werden – und gleichzeitig erhöhte sich die Truppenstärke um das Fünffache oder mehr. Das zog eine Einkommenskrise der herrschenden Klasse nach sich, mit der das Mittelalter endgültig beerdigt und die moderne Zeit eröffnet wurde.
"Anlegen, Laden, Feuern: Standardisierte Handgriffe, die auf Kommando ausgeführt wurden, revolutionierten den Krieg und wurden zur Inspiration für industrielle Prozesse." Um die europäischen Kriegs- und Expansionsgelüste zu finanzieren, waren die Kriegsherren gezwungen, neue Geldquellen zu erschließen. Allerdings war das keine so leichte Angelegenheit, da die Landwirtschaft als traditionelle Einnahmequelle durch die Abkühlung des Klimas empfindlich in Mitleidenschaft gezogen war. Handel, zumal der Fernhandel – so wurde schnell deutlich – entwickelte sich im Wettbewerb der Mächte zu einer Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln.
Das befeuerte die wirtschaftliche Revolution, die durch den neuen Kaufmannsgeist ohnehin im Gange war, und führte zu einem florierenden Dreieckshandel zwischen Europa, Westafrika und dem neu entdeckten Amerika, der den alten Kontinent innerhalb weniger Generationen radikal verändern sollte. Neben Sklaven wurden neue Getreidearten eingeführt, während Gemüse wie Kartoffeln und Mais die Produktion diversifizierten.
"Für die Händler in Bordeaux und Nantes, in London und Plymouth, Amsterdam und Antwerpen, Porto und Neapel war die Handelsbilanz trotzdem glänzend, denn die Produkte aus der Neuen Welt, die sie mit dem Erlös aus dem Verkauf der Sklaven erwarben und die auch von Sklaven produziert worden waren, konnten in Europa mit riesigen Profiten verkauft werden. Die Städte waren hungrig und entwickelten einen besonderen Heißhunger auf exotische Genussmittel wie Zucker, Tee, Kaffee und Tabak sowie Baumwolle, Gewürze und Rohstoffe."
Dieser erste Schub der Globalisierung, der die Welt im 17. Jahrhundert erfasste, kostete Millionen afrikanischer Sklaven das Leben – im Schnitt 20 Prozent derer, die auf den Überseepassagen Körper an Körper unter Deck festgehalten wurden. Im Jahr 1700 arbeiteten schließlich allein in den britischen Kolonien in Nordamerika etwa 28.000 versklavte Afrikaner.
"Unsere europäischen Vorfahren waren einen Gutteil des Tages alkoholisiert. Diener, Arbeiter, Gesellen und Soldaten hatten ein vertragliches Recht auf ihre tägliche Ration – je härter die Arbeit, desto mehr. Ein Anstieg der Weinpreise wegen wiederholter schlechter Ernten bedeutete ein fast so einschneidendes soziales Problem wie ein steigender Weizenpreis. Als in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts die Weinernten einbrachen, wurde jedes verdorbene Jahr aufmerksam kommentiert."

Voltaire und die Folgen


Mitte des 17. Jahrhunderts hatte sich die Natur in der Wahrnehmung vieler Menschen von ihrem Schöpfer emanzipiert und war zu einem gigantischen Mechanismus geworden, dem man durch genaue Beobachtung auf die Spur kommen konnte. Die Mathematik verlieh den Naturgesetzen eine von den Launen der Götter unabhängige Sicherheit. Aber nicht nur die Natur erschien neu – auch die Öffentlichkeit erlebte den prominenten Strukturwandel, von der der Philosoph Jürgen Habermas gesprochen hat. In London, Paris, Amsterdam, Venedig, Wien und anderen Städten entstanden Cafés, in denen Argumente ausgetauscht wurden – jene geistige Errungenschaft, die sich aus der hartnäckig fortgesetzten Suche nach Gewissheit ergeben hatte. Machtansprüche mussten von nun an begründet werden, was dem Feudalsystem endgültig den Todesstoß versetzte.
Aufgrund der "Kleinen Eiszeit" war es in Europa zu einer Krise der Landwirtschaft gekommen, an deren Ende der ganze Kontinent transformiert worden war. Am Beispiel des Aufklärers Voltaire zeigt Philipp Blom in seinem an Erkenntnissen reichen Buch "Die Welt aus den Angeln", wie es Europa trotz der universellen ethischen Ansprüche, die die Aufklärung erhob, schaffte, sich mit dem eigenen Vorteil glänzend zu arrangieren.
"Voltaire war ein Intrigant, der immer wieder versuchte, potenzielle Konkurrenten in Paris abzusägen und seine Reputation zu schützen. Er war ein Rassist (bevor der Rassismus erfunden war), ein Apologet der Sklaverei und profitierte direkt und wissentlich von Sklavenarbeit. Er suchte die höfische Gesellschaft und war der Bankier und Vertraute von Adeligen, die Toleranz und Menschenrechte mit Füßen traten. Er war ein Snob und ein Zyniker, der argumentierte, man solle das Volk nicht bilden, sondern mit frommen Märchen und mit Staatsmacht in Schach halten. Er war auch ein großer Schriftsteller und ein wichtiger Anwalt eines liberalen Denkens."

Für Voltaire waren die Kaufleute, nicht die Adeligen, die eigentlichen Helden der Gesellschaft. Davon war er als junger Mann überzeugt worden – naturgemäß in der Hochburg des frühen Kapitalismus, im merkantilistischen England nämlich, wo es ihn wegen eines allzu losen Mundwerks, das er sich am Hof von Versailles gegenüber einem Aristokraten herausgenommen hatte, für drei lange Jahre zwangsweise hin verschlagen hatte. Von heute aus betrachtet, muten seine Ansichten, die er jenseits des Kanals gewann, wie eine Vorform eben desjenigen Neoliberalismus an, der seit Jahren die westliche Welt tyrannisiert: Toleranz, Offenheit, Liberalität und Friedfertigkeit betrachtete Voltaire als Emergenz ökonomischer Prosperität – und die menschlich-allzu menschliche Gier galt ihm als Motor des Wohlstands, wo die Tüchtigen belohnt und die Faulenzer bestraft werden.
Voltaire, der erste Neoliberale?, fragt Philipp Blom. "Die Ähnlichkeit ist kein Zufall, denn die Ideologie des freien Marktes ist ein Echo der rationalistischen, deistischen Aufklärung nach dem Zuschnitt Voltaires. Beide teilen Grundannahmen wie die Rationalität des Individuums, die individuelle Freiheit, die Toleranz des Marktplatzes, die selbstregulierende Kraft des rationalen Handelns und die meritokratische Elite, die politische und wirtschaftliche Geschicke ganzer Kontinente lenkt. Allerdings wird durch den Markt jeder dieser Werte ökonomisch interpretiert. Die Rationalität wird zur Rationalisierung, die Freiheit zur Deregulierung, die Elite zum Boardroom und Tugend zu wirtschaftlichem Erfolg – ein denaturiertes Spiegelbild der moderaten Aufklärung."
Die "Kleine Eiszeit" zwischen 1570 und 1700 veränderte Europa und seine Gesellschaft. Der Feudalismus wich dem Merkantilismus, der Adel den Kaufleuten. Inzwischen ist der ominöse Markt zum Hauptakteur in den westlichen Gesellschaften geworden. Aber Philipp Blom zeigt in seinem an Bezügen vielfältigen Essay, dass das Ende des Mittelalters zwar durch das kaufmännische Denken und seine Gier nach Profit beendet wurde, dass aber dieses Denken, das letztlich vom Klimawandel heraufbeschworen worden ist, heute seinerseits an sein Ende gekommen zu sein scheint.

Der erneute anstehende Klimawandel, dem die Welt ausgeliefert ist, offenbart, dass der Mensch auf eine Weise wirtschaftet, die ihn seiner eigenen Lebensgrundlagen beraubt. Das Ende des radikalen Kapitalismus aka Neoliberalismus ist absehbar, weil durch ihn verhindert wird, dass wir uns wie alle Organismen an die veränderte Umgebung anpassen. Entgegen aller Warnzeichen halten wir am Wachstum der Wirtschaft fest, das ... " ... noch stärker auf Ausbeutung von Menschen und natürlichen Ressourcen als das im Europa der 'Kleinen Eiszeit' ..."
... beruht – und wir halten einfach deshalb daran so hartnäckig fest, weil wir den eigenen Wohlstand unbedingt erhalten und nicht gefährden wollen. Wir alle sind Voltaireianer. In seinem klugen und suggestiven Essay "Die Welt aus den Angeln" nimmt uns Philipp Blom in die Pflicht, ohne deshalb mit pastoraler Moral aufzuwarten.

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http://www.deutschlandfunk.de/philipp-blom-die-welt-aus-den-angeln-die-kleine-eiszeit-und.700.de.html?dram:article_id=382897

Friedenspreis: Philipp Blom im Stiftungsrat

6.3.2017

Philipp Blom, Schriftsteller und Historiker, ist in den Stiftungsrat des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels berufen worden. Er folgt auf den Historiker Karl Schlögel, der nach sechs Jahren aus diesem Amt ausscheidet, teilte der Börsenverein des Deutschen Buchhandels am Montag in Frankfurt mit.  

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» mehr:  http://www.kultur-port.de/index.php/kunst-kultur-news/14075-neu-im-stiftungsrat-des-friedenspreis-des-deutschen-buchhandels-philipp-blom-und-stefan-koenemann.html

Die Geige stammt aus Meisterhand. Aber wer löst das Rätsel ihrer Herkunft?

15.2.2019

Neue Zürcher Zeitung - 15.02.19 - Angela Schauer
In einer Sache waren sich die Experten einig. Die Violine, die Philipp Blom ihnen vorlegte, war ungewöhnlich undvon edler Art. Doch wer hatte sie geschaffen, und wo? Dazu hatte jeder eine andere Meinung. Blom, Historikerund passionierter Geiger, hat sich am Ende selbst auf die Suche gemacht.
Woran bemisst sich der Wert einer Geige? An der Gewissheit, dass dieser oder jener Meister sie geschaffen hat, sagt der Experte; am Erhaltungszustand, an einem soliden Nachweis, durch welche Hände sie gegangen ist – gern dürfen es auch die des einen oder anderen berühmten Virtuosen sein. Nein, klingen muss das Instrument, ruft der Musiker, sein Ton muss tragen, formbar sein bis in die subtilsten Nuancen musikalischen Ausdrucks; und zwar desjenigen, den ich anstrebe. Ach, murmelt der Amateur, meine Kleine mag keine Stradivari sein und keinen Konzertsaal mit ihrer Stimme erfüllen, aber tauschen? Nie im Leben!
Von all diesen Temperamenten trägt der Historiker Philipp Blom etwas in sich. Er hat den Blick für das, was eine schöne Violine auszeichnet, das Interesse für die facettenreiche Geschichte des Geigenbaus, verkehrt in einer Werkstatt, wo er sich mit alten Meisterinstrumenten vertraut machen kann. Er hat von Kind auf selbst gespielt und den Traum einer Musikerkarriere nur zögerlich und unwillig preisgegeben. Und er ist einer von jenen, die in einer Geige durchaus Züge eines lebendigen Wesens erkennen.

Italienerin mit Akzent


«Geigen haben Gesichter wie Menschen; alle ähnlich und doch unterschiedlich, ausgewogen oder asymmetrisch, lang oder gedrungen, elegant oder unbeholfen, von unterschiedlicher Farbe, mit sprechenden Details, mit einer eigenen Mimik. Sie haben eine Geschichte, einen Ursprung, ein klingendes Leben.» So heisst es in «Eine italienische Reise», Bloms jüngstem Buch, das er seiner Violine und deren unbekanntem Erbauer widmet.
Kein Wunder, dass er sich in sie verliebte. Das Frontispiz des Buches zeigt ein schlankes Instrument mit elegant gewölbter Decke, das von einer auffallend zart gearbeiteten Schnecke gekrönt wird, Detailaufnahmen sind jedem Kapitel vorangestellt. Eine meisterlich gearbeitete, doch nicht ohne weiteres einzuordnende Geige, die – mit den Worten des Wiener Geigenbaumeisters, bei dem er sie erwarb – «in sehr flüssigem Italienisch, aber mit einem kleinen süddeutschen Akzent» spricht.
Doch was soll das heissen?
Die Antwort auf diese Frage hat Blom gesucht und gefunden, wenn auch nicht in einer Form, die sich auf zwei simple Worte herunterbrechen liess – den Vor- und Nachnamen des Geigenbauers, der zwischen 1700 und 1750 dieses Instrument geschaffen hatte. Stattdessen fasst sie der Autor in einen vielschichtigen Bericht, der die Geschichte seiner Nachforschungen mit der eigenen musikalischen Biografie verschränkt; der an wichtigen Schauplätzen den Blick auch einmal schweifen lässt und einen gemalten Totentanz aus dem frühen 17.Jahrhundert ebenso in den Fokus nimmt wie die erotischen Abenteuer, mit denen Venedig im Barockzeitalter lockte.
Jener Totentanz ist sozusagen die Kulisse für den Ausgangsort von Bloms Recherche. Zu sehen ist er in der Stadt Füssen im Allgäu, die seit dem 15.Jahrhundert eine zugleich zentrale und oft unterschätzte Rolle im europäischen Lauten- und Geigenbau spielte. Zentral, weil die Wälder der kargen Bergregion hervorragendes Klangholz hergaben; unterschätzt, weil Armut, das strenge Reglement der Innung, später auch eine Pestepidemie und die Verheerungen des Dreissigjährigen Krieges die meisten jungen Instrumentenbauer dazu nötigten, ihr Brot anderswo zu suchen.

Von Pontius zu Pilatus


Einer von ihnen muss der Schöpfer von Bloms Geige gewesen sein; er verlieh ihr den «süddeutschen Akzent», jene stilistischen Merkmale, die – zunächst als einzige – von einem Experten bestätigt und der Füssener Schule zugeordnet werden konnten. Was die wesentlich prominenteren italienischen Züge des Instruments anging, lagen sich die Fachleute jedoch in den Haaren. In Mailand hiess es lediglich, die Geige wolle «eine Milaneserin sein, ist es aber nicht». Bloms mittels aufwendiger Recherchen herauspräparierte Vermutung, dass der aus Brixen stammende und in Venedig tätige Matteo Goffriller das Instrument geschaffen haben könnte, zerrissen die Londoner Experten Ingles und Hayday in der Luft; sie verwiesen stattdessen auf den weniger bekannten Antony Posch – eine These, die wiederum vom führenden Posch-Experten mit einem «nie und nimmer» weggewinkt wurde. Ein weiterer Ansprechpartner nannte den Namen eines Geigenbauers, von dem man nicht einmal weiss, ob er tatsächlich selbst Instrumente gefertigt hatte.
Es wundert nicht, dass Blom – ohne sich fachlichem Rat zu verschliessen – nach neuen Wegen suchte, um seine Suche voranzutreiben. In welchen Umständen war der Erbauer seiner Geige aufgewachsen, wohin könnte er, einmal in Italien angelangt, seine Schritte gelenkt haben; wie lebte, wem begegnete er in der neuen Heimat? Solche Nachforschungen waren von umso grösserer Bedeutung, als der Autor sich diesem Mann unmittelbar verbunden fühlte: «Unsere Finger hatten denselben Lack berührt, dieselben sanft geschwungenen Formen, die er damals geschaffen hatte. Die Resonanzen, die ich hörte, hatte auch dieser Unbekannte einst gehört, er hatte das Holz so lange bearbeitet, bis er diesen Klang erreicht hatte.»
Blom hat ihm einen Namen – Hanns – gegeben, und er versucht mit detaillierter Recherche, gelegentlich aber auch auf eigenwilligen Wegen, sich in seine Lebens- und Gefühlswelt zu versetzen. Wenn er etwa biografische Bezüge zwischen Johann Sebastian Bach und dem Geigenbauer andeutet und Bachs Sonaten und Partiten für Violine solo als Spiegel einer zeittypischen Emotionalität aufruft, überzeugt der Kunstgriff als solcher nicht ganz; es ist offensichtlich, dass der Autor ihn vor allem dazu nutzte, die Leser in diesen Parthenon der Violinliteratur zu führen.

Theater der Erinnerung


Seinem Hanns bleibt Blom auch treu, als er sich eigentlich am Ziel seiner Wünsche findet: Stefano Pio, Verfasser einer mehrbändigen Studie über venezianischen Geigen- und Lautenbau, bestätigt ihm endlich, dass die Geige tatsächlich an Arbeiten aus Goffrillers Werkstatt gemahne. Doch – so spekuliert der Autor weiter – hatte zu jener Zeit nicht auch ein Zuanne Curci, genannt Zuanne il Todesco, in Venedig Geigen gebaut? Und war «Zuanne» nicht venezianischer Zungenschlag für Giovanni – also Hanns?
Philipp Blom gesteht es mit entwaffnender Ehrlichkeit ein: Aus rationaler Perspektive sei er bei dieser Recherche manchmal über sich selbst entsetzt gewesen. Ein «Theater der Erinnerung» habe er sich da aufgebaut, «in dem historische Fakten bei dramatisch flackerndem Kerzenlicht und mit vollem Orchester und fliegenden Göttern grosse Arien und komische Rezitative improvisierten».
Musikalisch und historisch Interessierte aber werden sich mit ebenso viel Genuss wie Gewinn in diesem Theater aufhalten. Beklagen wird man höchstens ein Detail: Das Buch hätte einen absolut perfekten Schluss gehabt – doch irgendein Teufelchen hat den Autor noch ein Dutzend Seiten darüber hinaus geritten.
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Philipp Blom: "Politiker schweigen bei den wichtigsten Fragen"

15.5.2019

Schau TV - 16.05.2019 - Helmut Brandstätter

Der Autor und Historiker spricht über Migration, wie sich die Gesellschaft und die Welt verändert und was wir ändern müssen.

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Die Fetischobjekte unseres Musikbetriebs

26.11.2018

Philipp Blom über alte Geigen

Deutschlandfunk - 26.11.2018 - Jochen Hubmacher

Meisterinstrumente wie Stradivaris oder Guarneris seien für viele Musiker faszinierend, so der Historiker Philipp Blom im Dlf. Solisten würden in ihren Lebenslauf schreiben, wenn sie eine dieser Geigen spielten. Aber sei das Instrument auch noch so alt – letztendlich käme es auf die Künstler an, gute Musik zu machen.

Stradivari, Amati, Guarneri – das sind die Namen, die bei Geigern den Puls und bei Auktionen die Preise in die Höhe schießen lassen. Die Herkunft der Geige des Historikers und Schriftstellers Philipp Blom ist nicht genau geklärt. Aber sie spielt die Hauptrolle in seinem neuen Buch „Eine italienische Reise – Auf den Spuren des Auswanderers, der vor 300 Jahren meine Geige baute“.

Seine Geige sei auch der Anlass gewesen, dieses Buch zu schreiben, erzählte Philipp Blom. „Es ist ein Instrument, das mich fasziniert hat, seitdem ich es gefunden habe“. Sie sei um 1700 in Italien von einem Deutschen gebaut worden. Er habe sich die Frage gestellt, wer der Geigenbauer gewesen sein könnte, wie sein Leben wohl ausgesehen habe, warum er wohl ausgewandert sei. Daraufhin habe er recherchiert.

Im süddeutschen Füssen hätten Bauern schon seit Jahrhunderten Teile für Lauten produziert, die dann in Italien zu fertigen Instrumenten zusammengebaut worden seien. Nach dem 30-jährigen Krieg sei Füssen eine Geisterstadt gewesen, so wie Syrien heute. Viele Bauern hätten die Stadt verlassen, darunter auch der Hersteller seiner Geige. Er sei nach Italien ausgewandert.

„Fetischistische Logik“

„Geigenbauer waren damals so wie Schuster oder Schneider, das waren kleine Handwerker“, so Blom. Ein deutscher Handwerker habe damals als Einwanderer in Italien mit ähnlichen Vorurteilen zu kämpfen gehabt wie ein Einwanderer heute. Man habe in Italien damals alle Deutschen für heimliche Terroristen gehalten, die den Irrglauben des Protestantismus verbreiten wollten. Jeder Deutsche habe damit rechnen müssen, vor die Inquisition gezerrt zu werden. Andererseits hätten die Geigenbauer auch Kontakte zu Künstlern und Musikern gepflegt. Ihre Arbeit habe also auch mit Hochkultur zusammengehangen.

Die Stradivaris, Guarneris und Amatis dieser Welt seien „sicherlich Fetischobjekte unseres Musikbetriebs.“ Das merke man daran, dass Solisten in ihrem Lebenslauf schreiben müsse, dass sie „die Stradivari oder Guarneri von soundso spielen.“ Dabei gebe es auch ganz tolle moderne Instrumente. „Aber ich hatte das Glück, viele dieser alten Meisterinstrumente zu spielen und manche dieser Instrumente sind wirklich ganz großartig.“ Letztendlich käme es aber auf den Musiker oder die Musikerin an, Musik zu machen, statt auf ein Instrument – sei es auch noch so alt.

„Mich hat der Gedanke fasziniert, ich spiele hier ein Instrument und lege meine Hände dahin, wo vor 300 Jahren die Hände eines anderen Menschen lagen. Da ist man natürlich gleich in einer so fetischistischen Logik, dass man glaubt, dieses Stück Holz habe noch etwas zu tun mit dieser Person – dass noch etwas von dieser Person dadurch spricht.“

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Foto: dpa / picture-alliance / Arno Burgi

Im Ohrensessel - Bedingungslos gefragt

18.5.2021

Radio Agora - 08.05.2021 - Pepe Lesjak

Philipp Blom zu Gast bei Pepe Lesjak im Ohrensessel. Wie wir derzeit mit der Natur umgingen, das „wird zum Selbstmordtrip“, sagt der Historiker, Philosoph, Journalist, Moderator und Autor Philipp Blom im Dlf. „Es braucht ein gemeinsames gesellschaftliches Projekt“, aber kein Politiker biete derzeit eine Vision einer besseren Zukunft. Die Reaktion auf die Corona-Krise mache aber Hoffnung. Wie das bedingungslose Grundeinkommen uns dabei helfen könnte und welche Hürden da noch zu überwinden sind, wird in diesem Gespräch erörtert.

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Zeit für eine neue europäische Gemeinschaft

20.3.2017

Philipp Blom im Gespräch mit Christine Heuer  | Deutschlandfunk  

Die EU müsse weitermachen - aber ganz anders, sagte der Historiker Philipp Blom im DLF. Das erfordere unter anderem ein ganz anderes Wirtschaftsmodell und eine neue Organisationsform. Der Sieg von Populisten wie Marine Le Pen könne das Ende der EU bedeuten.

Christine Heuer: Diese Woche werden die Römischen Verträge – sie waren der erste Gründungsakt der europäischen Gemeinschaft – 60 Jahre alt. Aber der EU ist nicht so recht zum Feiern. Die Union ist schlecht aufgestellt, Populisten in Europa und dem Rest der Welt machen ihr zu schaffen, der Brexit natürlich sowieso und auch die große Uneinigkeit in Zielen, Maßnahmen und dem Tempo, in dem sie dann vielleicht einmal umgesetzt werden sollen. Die Flüchtlingspolitik ist nur ein prominentes Beispiel für den Streit, der bald nur noch 27 Mitgliedsstaaten untereinander.
Geht die Krise auch wieder vorbei, oder ist die EU, ist der europäische Gedanke ernsthaft in Gefahr? Darüber möchte ich jetzt mit dem Historiker und Schriftsteller Philipp Blom sprechen. Zu seinen bekanntesten Büchern zählen "Der taumelnde Kontinent – Europa 1900 bis 1914" und "Die zerrissenen Jahre – 1918 bis 1938", Bücher also über die Vor- und Nachkriegszeit - da sprechen wir über den Ersten Weltkrieg in Deutschland und Europa – und auch über Parallelen, die man vielleicht zur Gegenwart ziehen kann. Guten Morgen, Herr Blom.

Philipp Blom: Guten Morgen, Frau Heuer.

Heuer: Die EU steckt in der Krise. Hat sich die europäische Idee überlebt?

Blom: Ich glaube nicht, dass sie sich überlebt hat. Aber vielleicht hat sich ihre Organisationsform im Moment überlebt. Die war sicherlich richtig in der Nachkriegszeit. In der Nachkriegszeit wollten wenige Franzosen, Deutsche oder Engländer eine Montanunion haben, aber das war ein ausgesprochen weitsichtiger Gedanke, das zu tun, und das war vielleicht auch nur möglich, das als Staatenbund zu machen. Aber vielleicht hat sich dieser Staatenbund in dieser Form tatsächlich ein bisschen überlebt.

"Der europäische Gedanke hat sich nicht überlebt"

Heuer: Das heißt, die EU hat sich überlebt?

Blom: Ja! Der europäische Gedanke hat sich nicht überlebt. Der europäische Gedanke ist so wichtig wie eh und je. All diese großen Themen, die Sie angesprochen haben, und noch mehr, ob es um globale Finanzmärkte oder um Klimawandel oder um Terrorismus geht, sind nicht im nationalen Kontext zu lösen, und auch ein mächtiger Staat wie Deutschland oder Frankreich kann gegen Klimawandel allein nichts tun. Der europäische Gedanke, auch vielleicht als eine tatsächlich historische Gemeinschaft mit gemeinschaftlichen Traumata, hat sich sicherlich nicht überlebt.

"Die EU ist nicht das Monster, als das sie immer dargestellt wird"

Heuer: Aber wie kann man den, Herr Blom, transportieren ohne die EU?

Blom: Vielleicht ist es irgendwann mal Zeit für eine neue europäische Gemeinschaft, die dann tatsächlich ein Völkerbund ist und nicht ein Staatenbund. Das heißt, wo die Menschen in einer europäischen Demokratie direkt ein Parlament wählen und eine Regierung und nicht wie jetzt über Länderparteien. Wir wählen dann in Deutschland für deutsche Parteien, die sich dann in Brüssel mit den äquivalenten europäischen Parteien zusammentun und über lange Verhandlungen zu einer ganz anderen Programmplattform kommen, als das die Parteien in den Ursprungsländern eigentlich vorgeschlagen hatten. Und das sind natürlich Sachen, die sind wirklich nicht sehr demokratisch.
Die EU ist nicht das Monster, als das es immer dargestellt wird. In der EU wird sehr viel gute Arbeit geleistet. Aber sie hat deutlich ein Kommunikationsdefizit und vielleicht hat sie auch ein Demokratiedefizit, und ich glaube, wenn man den europäischen Gedanken erhalten will, dann ist es ganz wichtig, auf diese Defizite einzugehen und sie zu beseitigen.

Heuer: Wie macht man das? Zum Beispiel, wenn ich Ihnen zuhöre, wie beteiligt man die Bürger stärker an Europa?

Blom: Na ja. Erst mal muss man sich daran erinnern, dass man selber ein Bürger ist oder eine Bürgerin und dass die Bürgerbeteiligung bei einem selbst anfängt. Und wissen Sie, dann gibt es Initiativen und Demonstrationen und das ganze Repertoire der Zivilgesellschaft, die so etwas tun kann. Aber ich glaube, man darf sich auch keine Illusionen machen. Es wird nicht gelingen, alle Menschen davon zu überzeugen, und viele Menschen finden, sie haben andere Probleme und die da in Brüssel wissen sowieso nicht, worum es ihnen geht, und das sind abgehobene Bürokraten. Es ist ganz interessant: Ich lebe in Wien und die sogenannte Brüsseler Demokratie hat weniger Angestellte als die Wiener Stadtregierung. Vielleicht ist das doch nicht so ein bürokratischer Moloch, wie er immer dargestellt wird.

"Nationalisten und Populisten können unsere Demokratien kaputtmachen"

Heuer: Aber trotzdem ist das ja genau die Klaviatur, auf der Nationalisten und Populisten in Europa gerade ziemlich erfolgreich spielen. Können die die europäische Idee wirklich kaputt machen?

Blom: Natürlich können sie das. Ja! Sie können auch – und da dürfen wir uns keine Illusionen machen – unsere Demokratien kaputtmachen. Es ist durchaus möglich, dass nicht nur Ungarn und Polen in die Richtung von autoritären Staaten gleiten, sondern dass das auch westeuropäische Länder tun. Es ist durchaus möglich, dass Marine Le Pen in Frankreich gewinnt und sich in Frankreich nicht nur die Atmosphäre ändert, sondern dass damit auch de facto die EU zu Ende ist. Ich meine, wir haben jetzt gerade erlebt, wie Geert Wilders nicht gewählt wurde, wir haben erlebt, wie Norbert Hofer nicht gewählt wurde, und es ging jeweils ein großer Seufzer der Erleichterung durch Europa. Aber ich glaube, man darf nicht verkennen, das ist kein Problem, was an einigen Persönlichkeiten hängt; das ist ein strukturelles Problem der Politik, von der sich Menschen nicht mehr repräsentiert fühlen und die dann tatsächlich darauf reagieren und etwas wollen – und das gab ja auch das Argument beim Brexit, was eigentlich bei vielen der Interviews mit Wählerinnen und Wählern immer wieder kam -, und das war, something’s got a change, irgendwas muss sich ändern.

"Demokratie funktioniert nur, wenn genug Menschen daran glauben"

Heuer: Aber warum muss sich eigentlich überhaupt etwas ändern, Herr Blom? So schlecht geht es den Menschen in Europa, den meisten Menschen jedenfalls, doch gar nicht.

Blom:
Wissen Sie, ich glaube, das ist etwas, das ist ein längeres Gespräch wert. Aber das ist richtig erst mal: Wir sehen im Moment, dass Demokratie zwar sicherlich einen gewissen Wohlstand nötig hat, um Stabilität zu gewährleisten, aber, dass das augenscheinlich nicht genug ist. Denn die Menschen heute sind als Gesellschaften im Durchschnitt – ich weiß schon, dass das nicht überall so ist – reicher als je zuvor. Aber trotzdem fühlen sie, dass ihnen die Felle wegschwimmen, dass ihre Welt zerbröselt vor ihren Augen, und damit haben sie auch nicht so Unrecht. Wissen Sie, die Demokratie funktioniert nur, wenn genug Menschen daran glauben.

"Nicht sagen: Populismus kommt aus der Dummheit der Massen"

Heuer: Warum glauben die Menschen daran nicht mehr? Liegt das an der Globalisierung?

Blom:
Das liegt zum Teil an der Globalisierung, aber das liegt zum Beispiel auch an der Digitalisierung. Mit anderen Worten: Maschinen nehmen immer mehr Jobs. Und das alte Versprechen der Demokratie, Deinen Kindern wird’s mal besser gehen als Dir und wenn Du hart arbeitest, dann kannst auch Du das kleine Reihenhäuschen schaffen und Dein Auto vor der Tür haben und so, das ist nicht mehr wahr und das wissen Leute, das spüren Leute. Und sie spüren vielleicht auch, dass Politiker gar nicht mehr die Macht zu haben scheinen, auch wenn sie das Richtige wollen, dieses Richtige durchzusetzen, und das macht sie misstrauisch und das macht sie auch verzweifelt und dann schlagen sie ein bisschen um sich und suchen nach anderen Möglichkeiten. Ich glaube, das ist eine sehr problematische Reaktion, aber es ist auch eine sehr verständliche Reaktion, und ich glaube, es ist wichtig, dass man nicht sagt, Populismus kommt einfach aus der Dummheit der Massen, sondern es kommt vielleicht auch daher, dass unsere Gesellschaften strukturelle Probleme haben, die sie im Moment nicht auflösen können. Wir wissen noch nicht, wie wir damit umgehen, dass immer weniger Menschen Arbeit finden, und das wird sich in Zukunft fortsetzen, dass weniger Menschen Arbeit finden. Und dann gibt es so etwas wie die Migration, die globale Migration, die eingesetzt hat, was auch zum Beispiel eine Folge des Klimawandels ist und dadurch auch verstärkt werden wird, und darauf haben wir auch noch keine gute Antwort gefunden. Wir wissen nicht, wie wir damit umgehen können.

"Das wird sicherlich ein neues Wirtschaftsmodell erfordern"

Heuer: Das sind Probleme, die uns lange beschäftigen werden. Bislang haben wir die politische Struktur der Europäischen Union und die europäische Idee, den europäischen Gedanken, der ja für Frieden, Demokratie, Menschenrechte und Wohlstand steht. Vielleicht ist es das schlechteste Mittel, aber das einzige, das wir haben. Ich möchte zum Schluss fragen, Herr Blom: Was droht uns, wenn das wegfällt? Droht uns dann Krieg, Willkür und Armut?

Blom: Wissen Sie, ich glaube, in den letzten zwei Jahren haben gebildete, kluge, faktenbewährte Menschen so oft gesagt, ach, das kann nie passieren. Das ist ein Satz, den wir erst mal in Karenz schicken sollten. Wir haben inzwischen begriffen, alles Mögliche kann passieren, was niemand für möglich gehalten hätte, und vielleicht ist es klug, mit diesem Gedanken weiterzugehen, nämlich dass auch Dinge, die bis jetzt unvorstellbar waren, passieren könnten, aber nicht passieren müssen, wenn wir entschieden genug als Demokratien darauf reagieren, wenn wir es wieder schaffen, Menschen zu involvieren – und das wird sicherlich auch ein anderes Wirtschaftsmodell erfordern -, und das sind sehr große Fragen. Aber ich glaube, wir sind einfach an einem Moment in der Geschichte, in der sehr große Fragen gestellt werden müssen, weil sich ein enormer Strukturwandel abzeichnet und vollzieht, und darauf haben unsere Gesellschaften noch nicht wirklich eine Antwort gefunden und es gibt dann auch so eine fatale Verbraucher-Attitüde, die sagt, nee, da habe ich im Moment keinen Bock drauf, lass mal. Das Problem ist, davon ist Geschichte sehr unbeeindruckt, ob man da gerade Bock drauf hat. Das passiert trotzdem. Und ich glaube, da müssen wir als Gesellschaften sehr hart gemeinsam darüber nachdenken, zum Beispiel, wäre es nicht mal wunderbar, wenn eine Politikerin, ein Politiker kommen würde und sagen würde, wer wollen wir eigentlich in 30 Jahren sein, in was für einem Land wollen wir dann leben und was für realistische Pfade gibt es, dahin zu kommen.

"Weitermachen, aber ganz anders"

Heuer: Also weitermachen, aber anders?

Blom: Weitermachen, aber ganz anders und mit mehr Energie, mit mehr Überzeugung. Denn die Risiken und das, was auf dem Spiel steht, ist im Moment wahnsinnig groß.

Heuer: Der Historiker und Schriftsteller Philipp Blom. Haben Sie vielen Dank für das Gespräch.

Blom: Danke Ihnen, Frau Heuer.

Heuer: Schönen Tag.

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Die ungewollte Nation

22.5.2019

Österreich ist ein traumatisiertes Land, ein Rumpfstaat, übrig geblieben nach dem Ende der Doppelmonarchie. Die Kontroversen von damals wirken bis heute nach - es ist eine zerrissene Republik auf der Suche nach Identität.

Was politische Kulturen gemeinsam haben, ist ihre Einzigartigkeit: Strukturen und Traditionen, die oberflächlich betrachtet verständlich scheinen, aber tatsächlich nichts erklären. Auch der spektakuläre Zusammenbruch der Koalition zwischen der von Sebastian Kurz neu frisierten ÖVP und der FPÖ und das Zustandekommen dieser Regierung stehen in einer Tradition, die sich aus dem Tagesgeschehen nicht erschließt.

Der österreichische Nationalismus und auch alte und neue Nazi-Parolen, Verschwörungstheorien und rassistische Klischees werden in Kreisen der FPÖ häufiger und ungenierter gebracht, als etwa in deutschen rechtskonservativen Kreisen (was allerdings nicht heißt, dass sie dort nicht bestehen). Das hat die Regierung Kurz immer wieder in Bedrängnis gebraucht: Rassistische und antisemitische Umtriebe in der Partei und in Burschenschaften, denen ein erheblicher Teil der FPÖ-Verantwortlichen ebenfalls angehört, zwangen Vizekanzler Strache immer wieder dazu, sich auf der Suche nach politischer Respektabilität von seinen eigenen Leuten zu distanzieren. Zugleich heizte der ehemalige Propagandachef und jetzige Innenminister Herbert Kickl die Situation durch provokante Auftritte und Gesetzesänderungen immer wieder an.

Tiefenschärfe

Historische Kontinuitäten können politischen Analysen dabei Tiefenschärfe geben. Der österreichische Rechtspopulismus, der heute verstärkt die Öffentlichkeit mit Nazi-Rhetorik, Verschwörungstheorien und rassistischen Parolen auflädt und vergiftet, wäre so nicht möglich gewesen ohne das Trauma des verlorenen Weltkrieges - des Ersten. 1919 war ein ehemaliges Reich, das zwanzig Prozent von Europa beherrscht hatte, von der Landkarte verschwunden. Die Alliierten hatten es zerschlagen. Ehemalige Kronländer wurden zu unabhängigen Nationen.

Der zurückbleibende, großteils Deutsch sprechende Rumpfstaat Österreich (ein Land, das auf keiner Schulkarte des Habsburgerreiches verzeichnet war und so nie bestanden hatte), hatte sein landwirtschaftlich wichtiges Hinterland an Ungarn verloren, wichtige Industriestandorte und Bodenschätze an die Tschechische Republik. Schlimmer aber: Eine österreichische Identität gab es nicht, zumal Kaiser Franz Joseph I., der sechzig Jahre lang regiert hatte, jede Art von Nationalismus mit dem größten Misstrauen gesehen hatte. Zum neu erfundenen Land musste auch die Identität noch erfunden werden.

Kulturkampf in einer ungewollten Nation

So entstand ein Kulturkampf zwischen katholisch-konservativen und progressiven oder sozialistischen Kräften, die sich bei dem kurzen Bürgerkrieg 1934 in Form des sozialdemokratischen Republikanischen Schutzbundes und der rechten Heimwehr auch Straßenschlachten lieferten.

Im Zuge dieser politischen, aber auch kulturellen Auseinandersetzung wurden beispielsweise auch Trachten - bis dahin einfach die Kleidung von Teilen der Landbevölkerung, die gelegentlich in Orten wie Bad Ischl auch während der Sommerfrische getragen wurde - zum politisch-identitären Symbol, während sich die Sozialisten damals oft an der Ästhetik der Sowjetunion orientierten.

Österreich war eine ungewollte Nation, zerrissen zwischen katholisch-konservativen und sozialistischen Visionen. Dabei gibt es auch hier unerwartete politisch-intellektuelle Traditionen. So waren es zum Beispiel Sozialisten wie der in Mähren geborene Staatskanzler Karl Renner, die deutschnational argumentierten, weil sie das deutschsprachige Überbleibsel des Habsburgerreichs, das Österreich war, nicht als entweder legitim oder notwendig erachteten. Lieber wollten sie sich mit den Genossen im Norden zu einer mächtigeren Union zusammenschließen, zumal die sozialistische Bewegung im stärker industrialisierten Deutschland auch mächtiger war als im ländlichen Österreich.

Die Vision Mitteleuropa

Konservativere und häufig ländliche Bevölkerungsgruppen hingegen verbanden einen konservativ geprägten Katholizismus oft mit Nostalgie für das verschwundene Kaiserreich. Sie äußerte sich in einem stolzen österreichischen Patriotismus und besonders in Abneigung gegen deutsche Bevormundung.

Nach dem Mauerfall suchte dieser Konservatismus nach einem wiedererstarkten "Mitteleuropa" mit dem neutralen Österreich als Zentrum des politisch-kulturellen Raumes - ein kaum verhohlener, gewissermaßen modernisierter Ersatz für die verschwundene Doppelmonarchie. Viele föderalistische Strukturen in deren Ländern waren schon damals praktiziert worden. Da Österreich-Ungarn letztendlich auch an dem Missmanagement nationaler Interessen und Nationalismen gescheitert war, war es allerdings Vision und Warnung zugleich. Das war auch die europäische Vision von konservativen Intellektuellen und von Teilen der Volkspartei ÖVP, bevor Sebastian Kurz sie übernahm und umorientierte.
Rechts von diesem starken, konservativen Block zieht sich eine Traditionslinie bis ins Kaiserreich: ein aggressiver, deutschnationaler, stark rassistisch gefärbter Nationalismus der kleinen Leute. Um 1900 war es Bürgermeister Karl Lueger (Hitlers große Inspiration), der seinen Wählern mit antisemitischen Hasstiraden einheizte. In der Zwischenkriegszeit wetteiferten Deutschnationale, Faschisten und Katholiken darum, diese Rhetorik weiter zu verschärfen, und nach 1945 sammelten sich in diesem Milieu die Gründer und ersten Mitglieder der FPÖ.

Stadt gegen Land?

Noch heute wirken diese Kontroversen nach, zumal die Spaltung zwischen Stadt und Land - auch im internationalen Vergleich zwischen unterschiedlichen politischen Kulturen - hier besonders ausgeprägt ist. Fünfzig Prozent der Österreicher und Österreicherinnen leben in Dörfern mit weniger als 5000 Einwohnern, ein weiteres Viertel in Städten mit bis zu 50.000 Einwohnern. Die einzige wirkliche Großstadt ist Wien, und auch die ist mit knapp zwei Millionen unter den kleineren Europas.

Die immer noch stark ländlich geprägte Bevölkerungsstruktur Österreichs erklärt vieles über die politischen Debatten des Landes. Auf dem Land funktionieren Gemeinschaften anders, unterscheiden sich die Debatten von denen in den Städten.

Trotzdem wäre es falsch (und oft auch einer gewissen deutschen Überheblichkeit geschuldet), Österreich als überwiegend konservativ und deswegen auch nationalistisch und rassistisch zu beschreiben. Nach der Flüchtlingskrise war die FPÖ ursprünglich alarmiert, weil die Ankunft der Flüchtlinge von einer Welle der Sympathie und Solidarität getragen wurde und sich zahllose Menschen ehrenamtlich engagierten. Erst dank der Legitimierung durch Bundeskanzler Kurz konnte sie in der Regierung die Debatte wieder an sich reißen.

Österreichs politische Einzigartigkeit liegt auch in seiner traumatischen Nationsbildung vor exakt hundert Jahren. Solche politischen Traditionen haben enorm lange Tentakel, die immer weiter vordringen, bis in die Zukunft hinein. Auch die nächste österreichische Regierung wird das Trauma der nationalen Identität nicht heilen können. Das Land ist und bleibt innerlich zerrissen, auf der Suche nach einer Identität, nach einer Rolle in einem ebenso zerrissenen Europa.

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World War I: War of Images, Images of War

10.12.2014

November 18, 2014–April 19, 2015
Getty Research Institute
curated by Thomas W. Gaehtgens; Nancy Perloff; Anja Foerschner; Gordon Hughes and Philipp Blom

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Vom Klimawandel, aber dem vor 350 Jahren

14.3.2017

Luxemburger Tagblatt

Philipp Blom schafft das, was nur wenigen gelingt. Er schreibt Bücher über Geschichte, die sich gut verkaufen. Ein Gespräch über die Kleine Eiszeit, die Europa im 17. Jahrhundert zu radikalen Umstellungen zwang - und die ein paar Lehren für uns heute bereit hält.
Der Hamburger Philipp Blom lebt seit rund zehn Jahren in Wien. Wir treffen den Schriftsteller und Historiker im Café Korb im ersten Wiener Bezirk. Zu Philipp Bloms bekanntesten Geschichtsbüchern gehören „Der taumelnde Kontinent. Europa 1900–1914“ und „Die zerrissenen Jahre 1918–1938“. In beiden Werken widmet Blom jedem Jahr ein Kapitel und beleuchtet die Entwicklungen der Zeit aus verschiedensten Blickwinkeln. Sie sind ebenso unterhaltsam wie lehrreich und von hier aus ausdrücklich zur Lektüre empfohlen.
Sein letztes Buch mit historischem Hintergrund heißt „Die Welt aus den Angeln. Eine Geschichte der Kleinen Eiszeit von 1570 bis 1700“. Auf Tageblatt.lu finden Sie hier unser Gespräch mit Philipp Blom über eben dieses Buch und diese Zeit. Auch heute befinden wir uns in einer Zeit des Klimawandels. Sich kurz damit zu befassen, was vor rund 300 Jahren mit den Menschen in Europa passierte, als das Wetter sich dauerhaft änderte, hat also durchaus einen Bezug zur Gegenwart. In der Tageblatt-Ausgabe vom 15. März finden Sie dann das ausführliche Interview mit Philipp Blom.

Tageblatt: Sie schreiben in ihrem letzten Buch „Die Welt aus den Angeln. Eine Geschichte der Kleinen Eiszeit von 1570 bis 1700“, das vom damaligen Klimawandel handelt, dass es radikale gesellschaftliche Veränderungen gab, das aber nicht nur negativ war.

Philipp Blom: Was wir an der Kleinen Eiszeit sehen können, ist Folgendes: Wenn eine Transformation unvermeidlich ist, muss sie aggressiv ergriffen und gestaltet werden. Sie zu negieren ist auch für die Mächtigsten und Reichsten nicht lange möglich.

Können Sie da ins Detail gehen?
Wie gesagt, das ist eine Entwicklung, und wie alles im Leben nicht nur negativ und nicht nur positiv. Die Kleine Eiszeit setzt zum Ende des des 16. Jahrhunderts ein. Natürlich begriff man damals - im Vergleich zu uns heute - nicht, dass das ein globales Phänomen ist oder ein systemisches Phänomen, sondern man erlebt nur lokal Hagel, Missernten, fürchterlich schwere Winter, etc.
Und wie es einem spätmittelalterlichen Weltbild entsprach, war die erste Reaktion: Der Herr ist böse auf uns! Also müssen wir Abbitte tun. Es gab demnach Bußprozessionen, es wurden Reliquien auf Gletscher getragen, um die Gletscher zu stoppen, die weiter runterwuchsen und Dörfer einfach mit sich nahmen, und natürlich gab es Hexenverbrennungen. Davon betroffen waren meistens Frauen. Denen wurde eigentlich immer vorgeworfen, das Wetter verdorben und verhext zu haben. Aber das Wichtige ist: Es war eine religiöse Reaktion auf ein natürliches Phänomen. Im Lauf von ein oder zwei Generationen hat sich sehr deutlich gezeigt, dass diese Antwort nichts geändert hat.

Das heißt, die Menschen haben umgedacht?

Menschen haben begonnen umzudenken. Die Agenten der Veränderung in dieser Zeit, das war eine neue Art von Menschen. Menschen, die lesen und schreiben können und in Städten wohnen. Das waren Experten. Diese Kleine Eiszeit setzte ein mit einer gigantischen Lebensmittelkrise.
Man muss sich vorstellen, was das damals bedeutete. Die ganze europäische Gesellschaft war aufgebaut auf lokale Landwirtschaft, und das war fast nur Getreidewirtschaft, also eine Art Monokultur. Wenn da die Bedingungen schlecht waren für ein Produkt, dann war es gleich die Katastrophe. Aber von den Steuern der Landwirtschaft haben auch die Kirche und der Adel gelebt. Der Adel hat dauernd Kriege geführt, brauchte also dauernd Geld.

Die Krise der Landwirtschaft griff also direkt auf alle Bereiche des Lebens über?

Wenn diese Landwirtschaft wegbrach, dann brach diese gesamte gesellschaftliche Pyramide ein. Doch wir erleben da, dass dieser Krise begegnet wird - und dies zum ersten Mal in der europäischen Geschichte - durch Wissenschaft: Dass Botaniker sehen, aha, so kann man Erträge steigern. So kamen in einer Landwirtschaft, in der sich eigentlich seit tausend Jahren nichts mehr geändert hatte, jetzt große Änderungen. So haben sie diese Krise überwunden.
Diese Mittelschicht, die auf einmal angefangen hat, empirisch zu denken und nach Lösungen zu suchen und sich in einem öffentlichen Raum über gedruckte Gedanken austauscht, das war etwas Neues, etwas wirklich Transformatives.

Nur ein positiver Nebeneffekt oder mehr als das?

Mehr als das. Diese Mittelschicht will irgendwann auch Macht haben. Weil auf einmal hat sie viel Geld, viel Einfluss. Doch wie kann sie diesen Machtanspruch argumentieren? Denn die Argumente von Adel und Kirche stehen hier nicht zur Verfügung.
Da kommt ein sehr altes philosophisches Argument aus dem Kasten, das sagt: Wir haben doch eigentlich alle das gleiche Recht zu leben, jeder Mensch ist doch eigentlich gleich. Das ist also durchaus auch einem sozialen Interesse geschuldet. Das ist der Anfang der Aufklärung, der an den Plätzen sozusagen ausbricht, die besonders von diesem Zeitenwandel geprägt sind.

Amsterdam in der Zeit ist ein prägendes Beispiel ...

Amsterdam ist das Paradebeispiel. Das ist Mitte des 16. Jahrhunderts eine kleine, unbedeutende, nicht besonders wohlhabende Stadt. Amsterdam kommt dann über Getreidehandel nicht nur zu Wohlstand. Und das ist jetzt sehr wichtig, denn wenn es so etwas gibt wie eine Lehre aus der Geschichte, dann würde ich sie da sehen für uns: Die Stadtväter von Amsterdam fangen an, ganz aggressiv zu investieren, nicht nur in Handel – sie machen zum Beispiel eine Börse auf, wo man also Risiken diversifizieren kann, es gibt auf einmal ein Versicherungswesen und andere Dinge, der Markt verzweigt sich -, sondern sie investieren auch in Schulen.
Die Universität Leiden ist die einzige mit Montpellier, wo man nicht auf einem bestimmten Glauben schwören muss, um dort studieren zu können, wo man nicht nur Jura und Theologie studieren kann, sondern auch Anatomie und Botanik und Arabisch und Ähnliches.

Das dürfte auch die Menschen verändert haben …

Rembrandt ist ein gutes Beispiel. Rembrandts Vater war Müller. Ich nehme an, dass Rembrandts Großvater auch Müller war. Aber Rembrandt wird auf eine Lateinschule geschickt. Man sieht diesen Willen zum sozialen Aufstieg, zur Änderung.
Durch die Tatsache, dass da eine Veränderung ergriffen wurde und gestaltet wurde, wurden die Niederlande zur größten Handelsmacht dieser Zeit, und das in erstaunlich kurzer Zeit. Das ist nicht nur eine schöne Entwicklung. Sie waren sehr brutale Kolonialherren. Auch in Amsterdam arm zu sein, war nicht lustig. Aber es ist eine erstaunliche Transformation.

Gibt es auch Beispiele für Versäumnisse in der Zeit?

Auf der anderen Seite dieser Skala steht Spanien, das am Anfang dieser Zeit bei weitem wohlhabendste und reichste Land der Welt, eben das Reich, in dem die Sonne nicht unterging. Spanien hatte einen ständigen und gigantischen Influx von Edelmetallen aus den Kolonien und war sozusagen so betrunken von seinem eigenen Erfolg, dass es dachte, gerade wir müssen uns nicht ändern.
Spanien hatte damals sehr rigide aristokratische Strukturen, stand unter einem sehr starken Einfluss der Kirche. Es gab ein großes Misstrauen gegenüber allen Phänomenen der Mittelschicht. Die Juden wurden ausgewiesen. Dann war da noch die Vertreibung der Moriscos, also der mohammedanischen Bürger, die im Handel besonders involviert waren, ein Netzwerk im ganzen Mittelmeerraum hatten, das Verbieten von Universitäten, das Verbieten von Schulbildung. Dazu erlebt Spanien eine gigantische Inflation. Das ganze Silber, das tonnenweise reinfloss, hilft dem Land nicht, macht nur alles teurer, ruiniert den Handel. Spanien erleidet vier Staatsbankrotte innerhalb eines Jahrhunderts und hat sich eigentlich davon noch nicht wieder erholt.

Heute erleben wir mit dem Klimawandel das Gegenteil einer Eiszeit, es bleibt aber ein Umbruch. Kann es also auch hier positive Effekte geben?
Es gibt einen großen Unterschied: Wir leben heute in Demokratien. Es muss also diesen demokratischen Willen geben, diese Transformationen tatsächlich vorzunehmen. Diesen sehe ich im Moment nicht. Das ist die eigentliche Gefahr.

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Philipp Blom: Alles steht auf dem Spiel

8.8.2017

NDR Kultur | Natascha Freundel

"Wer über die Zukunft nachdenken will, muss einen Satz aus seinem Vokabular streichen. Dieser Satz lautet: 'Das kann nie passieren.'" Ein Zitat aus dem neuen Buch des Historikers Philipp Blom mit dem Titel "Was auf dem Spiel steht". Die Antwort gibt der in Wien lebende Bestseller-Autor gleich auf den ersten Seiten: Alles. In Zeiten des Klimawandels und der Digitalisierung ist nichts unmöglich und alles steht auf dem Spiel, vor allem die Errungenschaften der westlichen Zivilisation: also Demokratie, Freiheit, Toleranz, Wohlstand.

Herr Blom, was hat für Sie den Ausschlag gegeben, nach Ihren Studien zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und zur kleinen Eiszeit zwischen 1570 und 1700 sich nun ins kalte Wasser der Gegenwart zu stürzen?
Philipp Blom:
Was mich dazu bewogen hat, ist, dass ich in diesem Wasser zwangsläufig schwimme. Geschichte ist ja auch nur interessant, weil sie uns Dinge über uns selbst erklärt: wo wir herkommen und was für Strukturen am Werk sind. Und genau diese Perspektive kann man auch auf die Gegenwart anwenden: Was für Strukturen sind das, wo treiben sie hin und was könnte das für uns bedeuten? Das ist durchaus eine historische Sicht auf die Gegenwart.

Wie würden Sie denn die wichtigsten Strukturen unserer Gegenwart beschreiben?
Blom: Da gibt es besonders zwei Sachen, die für mich wichtig sind. Der Klimawandel wird enorme Umwälzungen bringen, viel mehr am Äquator, aber sicherlich auch bei uns. Auch die Digitalisierung ist etwas, was unser ganzes Arbeitsleben und damit unsere ganze Gesellschaft umkrempeln wird, wenn immer mehr Menschen immer weniger Arbeit haben. Man merkt jetzt schon, wie viel Angst Menschen vor dem sozialen Abstieg haben, dass ihnen jemand etwas wegnimmt. Diese Angst könnte damit wachsen.
Nun ist das etwas, worauf eine Gesellschaft reagieren kann, es gibt durchaus sehr interessante Möglichkeiten, wie man in einer Gesellschaft ohne Arbeit oder mit wenig Arbeit gut leben kann. Aber das müssen wir auch tun. Ich habe das Gefühl, dass wir eigentlich eine Gesellschaft sind, die gar keine Zukunft will. Wir wissen, dass Zukunft Veränderung ist, und Veränderung eigentlich immer Verschlechterung für uns ab jetzt sein muss. Und deswegen wollen wir nur, dass die Gegenwart nicht aufhört. Aber so kommt man nicht weiter in einer Gesellschaft und so wird man nicht zukunftsfähig. Diese Veränderungen, Klimawandel und Digitalisierung, passieren - ob wir das wollen oder nicht. Unsere Frage ist nur: Wollen wir diese Veränderung mitgestalten oder wollen wir sie irgendwann nur erleiden?

Wie müsste sich denn unser Denken und Handeln ändern, um angemessen auf den Klimawandel und die Auflösung unserer Arbeitswelt durch schlaue Maschinen zu reagieren? Haben Sie einen Lösungsvorschlag?
Blom: Ich glaube, wir müssen alle gemeinsam über die Antworten nachdenken. Wir gehen immer davon aus, dass die Dinge so sind, weil sie nun mal so sein müssen, und das ist halt normal. Das ist ein Irrtum. Die meisten Gesellschaften und historischen Entwicklungen sind ziemlich zufällig und könnten auch ganz anders sein. Das heißt, wir könnten auch mit unseren Gesellschaften in eine andere Richtung. Und das bringt mich zum zweiten Punkt: Wir sind im Moment in einem Wirtschaftssystem, das darauf angewiesen ist, zu wachsen. Deshalb sind wir darauf angewiesen, immer mehr Energie zu verbrauchen und immer mehr Müll auszustoßen. Das ist ein Modell, das so nicht weitergehen kann. Da müssen wir uns umsehen, was es für Alternativen gibt. Können wir in gesunden Ökonomien leben, die nicht gezwungen sind zu wachsen? Denn mit diesem Wachstum hängt auch zusammen, dass dieses Wachstum Konsumenten braucht, die immer neues Zeug kaufen, was sie nicht brauchen. Und diese Konsumenten wurden ganz bewusst erfunden. Man muss nicht in einer Hyper-Konsumgesellschaft leben, es gibt genug Gesellschaften, die das nicht tun. Und auch unsere Gesellschaften hatten mal andere Ideale. Das heißt nicht, dass wir zu ihnen zurückkehren müssen, aber dass wir uns bewusst sein müssen: Das, was heute ist, ist nicht so, weil es so sein muss. Das könnte auch besser sein.

In Ihrem Buch zur kleinen Eiszeit von 1517 und 1700 schildern Sie die Entstehung der modernen Welt aus einer Klimaveränderung von zwei Grad in Europa, als hätte die kalte Luft die Ideen der Aufklärung befördert. Sie haben gesagt, dass aber heutzutage offenbar die Veränderungen kein neues Denken hervorbringen, dass sich die Menschen als Gewohnheitstiere an dem festklammern, was sie haben und konservativ reagieren. Können wir aus der Geschichte, die Sie in Ihrem vorherigen Buch beschreiben, lernen?
Blom: Das ist eine spannende Frage. Ich glaube, man kann sich als Individuum durchaus mit Geschichte beschäftigen und sehen: Menschen ticken so, Gesellschaften machen dies, und wir unterliegen der selben Logik. Das Problem ist, dass Gesellschaften nicht immer im gleichen Chor singen und die gleiche Stimme singen. Da gibt es Interessenkonflikte und auch Interpretationskonflikte über Geschichte. Die eine Lehre da herauszuziehen, gelingt in größeren Gesellschaften nur sehr selten.
Es gibt Reaktionen auf Traumata - das haben wir in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg mitgemacht. Deswegen hatten wir damals zum Beispiel auch Soziale Marktwirtschaft, weil die politische Priorität war, Menschen nicht wieder so absacken zu lassen, dass wir wieder in einer Weimarer Republik landen. Aber diese Reaktion, die Nachkriegszeit, ist jetzt vorbei und eine neue Zeit fängt an, wo diese Reflexe nicht mehr stimmen. Für viele Menschen, die Einfluss und Macht haben, geht es nicht mehr darum, Gesellschaften zu schaffen, die einen starken Zusammenhalt haben, die solidarisch sind. Sondern es geht viel stärker um wirtschaftlichen individuellen Erfolg - und diese Priorität müssen wir uns sehr sorgfältig ansehen.

Um noch einmal auf den Satz zurückzukommen, den ich eingangs zitiert habe: Die tröstlichen Worte "Das kann nie passieren" können wir getrost vergessen. Aber können Menschen gut mit dem Gedanken leben und zusammenleben, dass "nichts an der gegenwärtigen Situation natürlich und notwendig ist", dass also alles kontingent ist?
Blom: Das kann einem auch sehr viel Hoffnung geben, denn das, was wir im Moment haben, ist nur für sehr wenige Menschen gut: global nur für den reichen Westen und in den Gesellschaften nur für diejenigen die reich sind. Die Tatsache, dass nichts normal sein muss, kann einem sehr viel Hoffnung geben, dass auch positive Veränderung möglich ist. Aber wir müssen wissen: Die Veränderung kommt, das ist nicht mehr unsere Wahl. Wir müssen uns nur überlegen, wie wichtig es uns ist, in Staaten zu leben, die wirklich demokratisch sind. Dafür brauchen wir genug Menschen, die selbst investiert sind in die Idee der Demokratie. Und wenn mehr Menschen finden, dass Demokratie für sie nicht interessant ist, dann wird die Demokratie auch in unseren Ländern aufhören. Dann verschwinden auch solche Ideen wie Menschenrechte. Das muss nicht passieren, aber ich glaube, es kann sehr gut passieren. Wir sehen es schon in Europa um uns herum: Es gibt große Umwälzungen, und wir müssen uns im Klaren sein, dass das Schlimmste passieren könnte. Und nur wenn wir das wissen, dann können wir auch mit genug Überzeugung dagegensteuern.

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Eine italienische Reise

6.11.2018

Philipp Blom hat zahlreiche historische Bücher veröffentlicht, ist hier aber als Musiker unterwegs.

Eines Tages fiel ihm eine wunderbare historische Geige in die Hände. Er macht sich auf eine aufwendigeRecherchetour, reist quer durch Europa um herauszufinden, wer sie womöglich wohergestellt hat. Wie ein Detektiv, der nach demSchuldigen fahndet, befragt der Autor anerkannte Experten und nähert sichdem Geheimnis Stück für Stück.

Die Welt des Geigenbauens Anfang des 18. Jahrhunderts wird lebendig – hier gibt es viele Einsichten für den Laien,den Musikfreund, aber auch den angehenden Virtuosen, der sich wundern kann, was alles in diesem Instrumentverborgen liegt.

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Nach der Pandemie die grosse Party? Eher liegen die «Roaring Twenties» bereits hinter uns

16.5.2021

Neue Zürcher Zeitung - 16.05.2021 - Philipp Blom

Ist Corona einmal überwunden, wird die Welt in die goldenen zwanziger Jahre eintreten – das propagieren die Medien gerne. Dabei geht vergessen, dass wir längst schon Exzesse feiern, als ob es kein Morgen gäbe.

Ein Gespenst geht um in den Medien der Welt, das Gespenst des historischen Vergleichs. Nach 2014, als allenthalben gefragt wurde, ob wir auf ein neues 1914 zurasen, bringt sich jetzt die Parallele zu den Roaring Twenties in Position. Schliesslich hatten die Menschen auch damals gerade eine Pandemie überlebt und stürzten sich danach kopfüber ins hedonistische Vergnügen. Diese Ähnlichkeit ist einfach zu verlockend, auch und gerade für eine Medienlandschaft, die immer nach «Content» giert und sich dankbar auf das Offensichtliche wirft.

Ganz neu ist die Faszination über die 1920er nicht. Vom Film «The Great Gatsby» (2013) zur Netflix-Serie «Babylon Berlin» (seit 2017) – schon seit der Jahrtausendwende haben sich solche Referenzen in der Populärkultur etabliert, immer mit Hinweis auf ominöse Parallelen. Im Laufe des letzten Jahres und besonders seit ein Ende der Corona-Pandemie zumindest in der reichen Welt in Sicht ist, hat dieses Interesse eine ganz neue Dynamik entwickelt.

Wie damals wird es auch heute kommen, liest man von der «New York Times» bis zu Büchern, die sich jetzt schon im historischen Kaffeesatzlesen üben und dabei unisono raunen, die Welt gehe auf die neuen «Roaring Twenties» zu. «Die Menschen werden sich schonungslos in das Leben stürzen, Clubs besuchen, Restaurants, politische Kundgebungen, Sportereignisse, Konzerte», schreibt etwa der Yale-Historiker Nicholas Christakis in seinem im Oktober 2020 erschienenen «Apollo’s Arrow». «Wir könnten eine Phase sexueller Freiheiten erleben, die Künste könnten aufblühen.» So werden die «Roaring Twenties 2.0» ausgerufen, budgetiert, entworfen, vermarktet, konsumiert.

Leseraster à la Hollywood

Bei alledem fusst dieser so unwiderstehliche Vergleich bestenfalls auf einer selektiven Wahrnehmung, häufig aber auch auf der Hollywood-Version der Vergangenheit. Der Great Gatsby wird zumindest für eine Generation die Züge Leonardo DiCaprios tragen, die Zwischenkriegszeit als Rave.

So wird ein nostalgisches Leseraster über das Panorama dieser so widersprüchlichen Zeit gelegt, und es entsteht das Bild der verrauchten und verruchten Berliner Kabaretts, in denen Schwule und Lesben offen der bürgerlichen Konvention trotzten, von den Pariser Jazzklubs, in denen sich Genies nur so tummelten, vom Cotton Club in Harlem und «speakeasies» in New York und Chicago und von rauschenden Partys der Jeunesse dorée, bei denen Drogen, Alkohol und andere Ausschweifungen an der Nachtordnung waren. Dazu gehören die sinnlichen Linien des Art déco und die kurzen Röcke einer befreiten Frauengeneration, der Zynismus und der unbändige Lebenswille von jungen Männern, die aus dem Krieg heimgekehrt waren, die Rebellion der Jungen und Schönen.

All das hat tatsächlich stattgefunden, und wenn es nur um die Feststellung geht, dass in beiden Zwanzigern nach einer Pandemie kräftig gefeiert und der Hedonismus zelebriert wurde bzw. wird, dann ist dem wohl kaum zu widersprechen. Allerdings ist damit noch nichts erklärt und nichts verstanden.

Bei näherem Hinsehen ergeben sich jedoch Unterschiede, die solchen Vergleichen überhaupt die Aussagekraft rauben. Gleichzeitig tauchen überraschend Elemente auf, die auf ganz anderer Ebene dennoch erlauben, die Konturen der Gegenwart im Licht der Geschichte deutlicher heraustreten zu lassen.

Nur wenige Menschen tanzten

Zunächst zum Begriff selbst, der bereits zeigt, wie unterschiedlich diese Epoche erlebt wurde. Roaring Twenties, Goldene zwanziger Jahre, «les années folles». Die Epoche war all dies, aber nur für wenige Menschen und für kurze Zeit – und fast ausschliesslich in den Metropolen von Europa und den USA. Vielleicht gab es einige Etablissements oder sogar Stadtviertel in Melbourne, Schanghai, Buenos Aires, Beirut oder Alexandria, in denen die neue Kultur aus Jazz, Cocktails, Freizügigkeit und durchtanzten Nächten noch Wellen schlug.

Aber in der Provinz und auf dem Land gab es nach dem Krieg andere Probleme, und in anderen Gegenden der Welt herrschte eine völlig andere Wirklichkeit. Teile Osteuropas, Russland und China waren in bittere Bürgerkriege verwickelt, Afrika und grosse Teile Asiens waren unter Kolonialherrschaft.

Auch im Süden und im Zentrum der USA war vom Aufschwung des industriellen Nordens wenig zu spüren. Der kulturelle Wandel aber war raumgreifend und unaufhaltsam. Die neuen Industriejobs zogen Schwarze aus den Südstaaten in die Grossstädte des Nordens. Das führte einerseits zu rassistischen Unruhen, andererseits aber wurden diese Neuankömmlinge Teil einer neuen Gesellschaft, in der schwarze Tanzmusik und geschmuggelter Whisky, Männer und Frauen, Körper und Klassen, Musik und soziale Revolte, Mode und Moralvorstellungen eng ineinander verschlungen waren. Allerdings wurde dieser kulturelle Wandel keineswegs überall begrüsst: Während Jazzlegenden im Cotton Club eine neue Art von Musik erfanden, veranstaltete der Ku-Klux-Klan Aufmärsche in Washington DC.

In Europa war der Optimismus der zwanziger Jahre immer von Skepsis, Desillusionierung und Nihilismus durchzogen. Während vor dem Ersten Weltkrieg noch ein fast unbegrenzter Fortschrittsglaube geherrscht hatte und es damals nur als eine Frage der Zeit angesehen wurde, bis Hunger, Krankheit, Armut und Krieg aus der Welt verbannt sein würden, hatte die Erfahrung des Krieges einen so naiven Fortschrittsglauben zerstört.

Unvergessen war das Trauma der Schützengräben, die millionenfach gelernte Lektion, dass sich die Kreaturen des technologischen Fortschritts zum Morden auf einer industriellen Skala anwenden liessen und menschliche Körper einfach zermalmten. Soldaten, die aus zwanzig Kilometer Entfernung beschossen wurden, mussten bald einsehen, dass weder ihr Mut noch ihre Prinzipien, ihr Glaube oder ihre männliche Ehre sie vor der letalen Technologie bewahren konnten.

In der Gestalt dieser neuen Geschütze, von Stacheldraht, Maschinengewehren, Senfgas, Panzern und Kampfflugzeugen zeigte der Fortschritt seine dunkle, furchterregende Seite. Dieser Bruch offenbart sich in den Werken von Künstlern von Otto Dix bis Fernand Léger oder auch in Fritz Langs Kinofilm «Metropolis». Die Alte Welt hatte keine moralische Autorität mehr über die Gegenwart, und die Gegenwart war in sich zerrissen.

Die Grippe geht unter

Das Bewusstsein, nach einer Katastrophe zu leben, in einer neuen Epoche, war prägend für die 1920er Jahre mit all ihren politischen und kulturellen Energien. Hier zeigt sich ein scharfer Kontrast zur Gegenwart. Wie gross er ist, lässt sich an den beiden Reaktionen auf die Pandemien 1919 und 2020 ablesen: Kaum eine historische Quelle der Zwischenkriegszeit würdigt die Spanische Grippe (die wesentlich mehr Opfer forderte als der Weltkrieg selbst) auch nur einer Erwähnung.

Die Pandemie eroberte sich keinen Platz in der Erinnerungskultur. Es wurden keine Filme über sie gemacht, keine Romane über sie geschrieben. Es ist zu vermuten, dass sie ganz einfach von der politisch, kulturell und sozial gesprochen viel grösseren Katastrophe des Krieges überschattet wurde. Im Gegensatz dazu ist die heutige Pandemie für viele Menschen im Westen die erste Katastrophenerfahrung ihres Lebens und hat dementsprechend eine völlig andere Bedeutung.

Noch ein wirkmächtiger, wenn auch unspektakulärer Faktor weist in eine ganz andere Richtung: Gegen Ende des Ersten Weltkrieges lag der Anteil der unter Zwanzigjährigen an der Gesamtbevölkerung in Westeuropa bei knapp 40 Prozent, jener der über Fünfundsechzigjährigen bei 6 bis 7 Prozent. Heute hat sich der Anteil der Jungen halbiert und jener der Älteren fast vervierfacht.

In einer solchen Bevölkerung werden sich die Exzesse und Orgien in Grenzen halten, und auch gewaltsame Machtwechsel und andere Formen von Massengewalt werden in dem Masse unwahrscheinlicher, wie weniger junge Männer an den Ereignissen beteiligt sind. Revolutionen drohen da, wo eine junge, frustrierte Generation nach der Macht greift und Menschenleben billig sind. In den sklerotischen und verrechtlichten Gesellschaften des Westens wird der Erhalt des Status quo zum höchsten der politischen Gefühle. Diese Verliebtheit in die eigene Reglosigkeit kann in Zeiten der Klimakatastrophe fataler sein als ein Militärputsch, aber das steht auf einem anderen Blatt.

Weniger junge Menschen in der Gesellschaft stellen weniger Erneuerungspotenzial dar – und weniger Gewaltpotenzial. Das könnte wichtig werden, denn ein anderer Indikator rückt die Gegenwart in unmittelbare Nähe der fatal instabilen Verhältnisse der Zwischenkriegszeit.

Mitte der 1970er Jahre gelangten ca. 10 Prozent des nationalen Einkommens in den USA in die Hände des reichsten Prozents der Gesellschaft, während die unteren 50 Prozent der Einkommensskala auf einen Anteil von 19 Prozent kamen. 2019 hatte sich diese Proportion umgekehrt: 20 Prozent des nationalen Einkommens geht an das Prozent an der Spitze, 13 Prozent an die ärmere Hälfte.

Unmittelbar vor der Finanzkrise von 1929 waren die Verhältnisse fast identisch – mit ähnlichen Konsequenzen: Immer mehr Menschen fühlten sich (nicht ohne rationalen Grund) abgehängt und misstrauten dem System, das solche Ungerechtigkeiten zu ihren Lasten ermöglichte. Mit mehr jungen Menschen wäre das Risiko eines gewaltsamen Machtwechsels heute akut, so bleibt es im reichen Westen bei Fridays for Future.

Umkehr der Verhältnisse

Diese Umkehr der Verhältnisse legt einen Verdacht nahe: Vielleicht haben wir die «Roaring Twenties» gerade hinter uns – eine einzige, nihilistische Party mit immer weniger, immer reicheren Gewinnern und immer mehr und elenderen Verlierern, ein hedonistischer Tanz auf dem Vulkan ohne Rücksicht auf ein Morgen.

Der nihilistische Hedonismus der 1920er Jahre war eine Antwort auf den Bankrott einer Welt, auf den Hochmut vor dem zivilisatorischen Fall, in dem die mächtigsten Nationen der Welt einander gegenseitig zerfleischten. Dieses Fanal geschah aus einer Situation der internationalen Konkurrenz, aber doch so sehr ohne einen ersichtlichen, guten Grund, dass Historikerinnen und Historiker noch mehr als ein Jahrhundert später über die Ursachen debattieren.

Diese grundlose Vernichtungsorgie legt eine beunruhigende Frage nahe: Es kann nicht bezweifelt werden, dass Menschen um 1900 oder 1920 ebenso intelligent und rational waren wie heute. Wenn es rationalen Menschen damals möglich war, ihre eigene Welt innerhalb von wenigen Jahren zu vernichten, dann ist die wirklich sinnvolle Frage vielleicht nicht, wie damals die Kausalitäten verliefen, sondern welche Faktoren der Gegenwart unsere Rationalität und Intelligenz so aushebeln können, wie sie es damals taten, welche blinden Flecken heutige Gesellschaften kennzeichnen.

Der nihilistische Hedonismus des frühen 21. Jahrhunderts ist vorübergehend durch eine Pandemie unterbrochen worden, die ein direktes Resultat einer unaufhaltsamen, expansiven Globalisierung und Naturzerstörung ist. Sie trifft nicht auf Gesellschaften, die am Ende einer Katastrophe stehen, durch welche alle Prioritäten und Wertvorstellungen neu geordnet werden müssen, im Gegenteil: Diese Erfahrung steht ihnen noch bevor, auch wenn die Weichen für sie bereits gestellt sind. Corona könnte sich als eines von vielen Symptomen dieses Umbruchs erweisen.

Den Bruchlinien entlang

Abgesehen davon, dass nach dem Neubeginn des öffentlichen Lebens zahllose Menschen hungrig in Restaurants, Klubs und Konzerthallen strömen werden, hat das also mit den Roaring Twenties nur sehr oberflächlich etwas zu tun. Tatsächlich aber bewegen beide Perioden sich an strukturell ähnlichen Bruchlinien entlang.

Demokratiepolitisch geht es hierbei um die Gefahr, dass ein System, das immer mehr Menschen immer weniger repräsentiert, unweigerlich droht, durch autoritäre Machtstrukturen ersetzt zu werden, auch wenn diese Autokraten vielleicht nicht aussehen wie eine Diktatur der 1930er Jahre. In Ländern wie Ungarn, Polen und der Türkei und bis vor den Präsidentschaftswahlen auch in den USA werden solche stillen Coups auch bereits vorexerziert.

Auch wirtschaftlich gibt es durchaus Parallelen zwischen Gegenwart und Zwischenkriegszeit. Der Erste Weltkrieg war nicht nur durch innereuropäische Rivalitäten, sondern auch durch die Kollision expansiver kolonialer und wirtschaftlicher Interessen auf der globalen Bühne mitverursacht worden. Solche Kämpfe um Vorherrschaft auf dem Weltmarkt und in zunehmendem Masse auch um Ressourcen schaffen auch heute ein immenses Konfliktpotenzial an strategischen Punkten wie dem Südchinesischen Meer oder den geplanten Nil-Staudämmen im Sudan.

Finanz- und Aktienmärkte, die sich immer weniger an realen «brick-and-mortar»-Gegenwerten orientierten und immer stärker spekulative Instrumente begünstigten, waren auch an den Börsen der Nachkriegszeit zu beobachten und feuerten den Aufschwung der USA bis 1929 an. Heute haben Regierungen und Finanzmärkte zwar effektivere Möglichkeiten, bei Marktschwankungen einzugreifen, andererseits aber sind die spekulativen Volumen um ein Vielfaches gewachsen.

Zusätzlich haben die Finanzkrise 2008 und die Corona-Massnahmen viel finanziellen Handlungsspielraum verbraucht. Eine neue Börsenkrise könnte unkontrollierbar werden, mit Auswirkungen weit jenseits von dem, was der Black Thursday weltweit verursachte, mit allen Konsequenzen für die demokratische Verfasstheit der betroffenen Gesellschaften.

Ein Lebensmodell kollabiert

Der teilweise so frenetisch zelebrierte Nihilismus der 1920er Jahre war nicht nur die Folge eines für alle Teilnehmer mit Ausnahme der USA wirtschaftlich verheerenden Krieges, sondern auch der finale Zusammenbruch der Moral und der Raison d’Être des 19. Jahrhunderts. Die Strukturen der Macht hatten sich verändert, die Rhetorik der alten Generation klang nur noch hohl.

Auch heute bricht ein Lebensmodell zusammen, allerdings vollzieht sich dieser Kollaps langsam, in Etappen und vor aller Augen. Die Logik des unendlichen Wachstums erstickt buchstäblich an ihren Nebenwirkungen, an ihrem historisch beispiellosen Erfolg. Noch ist nicht deutlich, was an die Stelle dieser Logik treten kann, aber es ist bereits deutlich, dass dieser Prozess nicht ohne erhebliche Konflikte ablaufen wird. Unwahrscheinlich, dass die folgenden Jahre und Jahrzehnte von einem allgemeinen Partyklima beherrscht werden, sei es auch noch so zügellos und anarchistisch. Kulturpessimisten sehen in solchen Feiern ohnehin Auswüchse einer spätrömischen Dekadenz, um eine andere, oft zitierte historische Parallele zu bemühen.

Ohne nostalgisches Leseraster sehen die 1920er Jahre der Gegenwart auf eine unerwartete und zutiefst beunruhigende Weise ähnlich, nicht weil die Geschichte sich wiederholt, sondern weil die Entwicklungsstränge dieselben geblieben sind und weil strukturelle Ähnlichkeiten gelegentlich zu ähnlichen Resultaten führen. Dies gilt besonders im Hinblick auf die Stabilität liberaler Demokratien und ihrer normativen Werte angesichts von Druckfaktoren von innen und von aussen, die mehr als genug Potenzial haben, um Staaten und Gesellschaften zu kippen.

Die Wirtschaftskrise von 1929 machte aus der Nachkriegszeit eine Vorkriegszeit. Demokratien zerbrachen, Millionen von Existenzen wurden vernichtet, Lebensträume platzten, ungleiche Gesellschaften spalteten sich in verfeindete Lager. Letzten Endes bedeutete das für Europa den neuerlichen, noch tieferen Absturz von Gesellschaften voller kluger, denkender Menschen in den mörderischen Wahnsinn.

Die Echos der zwanziger Jahre sind noch immer hörbar, aber sie stammen nicht von einer Jazzband, sondern von einem Aufmarsch derer, die dagegen sind, die sich als Opfer sehen, als Gedemütigte, die Rache nehmen wollen für das ihnen angetane Unrecht. Je polarisierter eine Gesellschaft ist, desto grösser die Aufmärsche. Die Marschierenden werden auch einen Feind finden, denn sie finden immer einen. Damals waren es die Juden, die Kulaken, die Homosexuellen, die Schwarzen, die Freimaurer – und heute?

Trotz glitzernden Partys gehen wir nicht auf die «Roaring Twenties 2.0» zu. Die Geschichte wiederholt sich nicht und erteilt auch keine Lektionen – aber unter der glitzernden Oberfläche der Ereignisse verbergen sich Strukturen, die uns die zwanziger Jahre näher kommen lassen, als uns lieb sein kann.


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Kleine Eiszeit - Die Folgen für die Moderne

6.3.2017

Klimawandel beeinflusst Lebensbedingungen und gesellschaftliche Entwicklungen. Wie weit dieser Einfluss reicht, versucht der Historiker Philipp Blom am Beispiel der Kleinen Eiszeit in seinem Buch "Die Welt aus den Angeln" nachzuvollziehen. Diese herrschte von 1570 bis 1700 - und bedingte vermutlich zum Beispiel den landwirtschaftlichen Wandel.

Es sind eindrucksvolle Zeitzeugenberichte, mit denen der Autor Philipp Blom seine Darstellung anreichert. Wie Menschen die Veränderung klimatischer Umweltbedingungen erleben, erfahren wir zum Beispiel von Daniel Schaller, geboren in Stendal 1550 und dort als Pastor an der Marienkirche 1630 auch gestorben - eine für die damalige Epoche bemerkenswert lange Lebensspanne. Doch es waren, glaubt man Schallers Aufzeichnungen, keine guten Jahre.

"Die Sonne, Mond und andere Sterne leuchten, scheinen und wirken nicht mehr so kräftig als zuvor. Es ist mehr kein rechter beständiger Sonnenschein, kein steter Winter und Sommer. Die Früchte und Gewächse auf Erden werden nicht mehr so reif, sind nicht mehr so gesund als wie sie wohl ehezeit gewesen."

Viele Zeitgenossen machten vergleichbare Erfahrungen. Dichter des elisabethanischen Englands verfassten schwermütige Verse auf den Winter, der so schrecklich geworden war, "als hätte die Natur den Frühling vergessen". In Wien klagten ehedem wohlhabende Weinhändler über Verarmung, nachdem sieben Jahrgänge hintereinander durch Kälte und Regen missraten waren. Ganz Europa erlebte in den Jahren um 1570 einen Temperatursturz.

"Es wirkt wie ein sadistisches Experiment, erdacht vom kapriziösen Gott Hiobs […]: Was passiert, wenn ich eine Population von Homo sapiens auswähle […] und Temperatur und Wetter ihrer Umgebung verändere? Wer überlebt, wer stirbt? Was bricht zusammen und was wächst? Finden die krabbelnden Tierchen einen Ausweg aus einer Krise, die ihre Existenz bedroht?"

Blom erfasst gesellschaftliche Veränderungen ab dem 16. Jahrhundert

Philipp Blom ist Philosoph und Historiker, publiziert in englischer wie deutscher Sprache, lebt nach Aufenthalten in Paris und London derzeit als Schriftsteller in Wien. Worum es in seinem neuen Buch geht, entnimmt der Leser dem Untertitel, der in seiner Ausführlichkeit selber eines barocken Druckwerkes würdig wäre:

"Eine Geschichte der Kleinen Eiszeit von 1570 bis 1700 sowie der Entstehung der modernen Welt, verbunden mit einigen Überlegungen zum Klima der Gegenwart."

Die Kleine Eiszeit ist ein von Klimahistorikern gründlich erforschtes Phänomen, für Blom der Referenzrahmen seiner Darstellung. Sie löste eine Wärmeperiode ab, in der Wikinger an den eisfreien Küsten Grönlands Viehzucht trieben und die Jahresdurchschnittstemperatur in Europa um zwei Grad über dem heutigen Niveau lag. Vom 14. Jahrhundert an war es damit allmählich vorbei. Die Temperaturen sanken und erreichten ihren Tiefststand 200 Jahre später in der von Blom behandelten Epoche. Er erwähnt die niederländische Malerei, in der im späten 16. Jahrhundert das Genre der Winterlandschaft entstand. In London standen 1608 Marktbuden auf der Themse, in Paris wachte König Heinrich IV. eines Morgens mit vereistem Bart auf.

Die Frage, die Blom durchaus auch mit Blick auf die Probleme der Gegenwart stellt, lautet: Was macht der Klimawandel mit den Menschen?

"Welche […] Auswirkungen hat eine Veränderung der natürlichen Rahmenbedingungen auf ihre Kultur, ihren emotionalen und intellektuellen Horizont? Das […] 17. Jahrhundert macht es möglich, die Auswirkungen des Klimawandels auf alle Aspekte des menschlichen Lebens […] verstehen zu lernen."

Sind die Neuerungen klimabedingte Anpassungsleistungen?

Das Neue an diesem Buch ist, dass der Autor zwei bekannte historische Phänomene in einer ungewohnten Zusammenschau miteinander verknüpft, die frühneuzeitlichen Klimadaten und die Anfänge des modernen Europa. Er entfaltet ein imposantes politik-, wirtschafts- und geistesgeschichtliches Panorama. Beschreibt, wie sich durch weiterentwickelte Feuerwaffen die Kriegsführung modernisierte. Schildert den Aufschwung des globalen Handels und die koloniale Expansion. Die Geburt des modernen Staates aus dem Geist merkantilistischer Wirtschaftspolitik. Und er konstatiert einen bemerkenswerten geistesgeschichtlichen Wandel: Zunächst hätten Zeitgenossen die Wetterphänomene als göttliche Zeichen gedeutet und versucht, mit Gebeten und Bittprozessionen Abhilfe zu schaffen. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts war von solch theologischer Interpretation keine Rede mehr. In Europa hatte sich etwas Neues etabliert, eine aufgeklärte Debattenkultur, in der die Grundlagen eines wissenschaftlichen Weltbildes entstanden.

Die Frage ist: Handelt es sich bei all diesen Neuerungen, wie der Autor nahelegt, um klimabedingte Anpassungsleistungen? Mit anderen Worten: Hätte es sie nicht gegeben, wenn es in Europa warm geblieben wäre? Blom selber zögert, seine These so weit zuzuspitzen.

"Nur sehr wenig kann direkt und kausal aus einem einzigen Grund wie dem Temperatursturz zwischen der mittelalterlichen Warmperiode und der […] Kleinen Eiszeit hergeleitet werden. Der Klimawandel war aber […] ein Katalysator, der diese Prozesse beschleunigte, andererseits ein […] Druckfaktor, der weitere Umwälzungen […] erzwang."

Am überzeugendsten kann Blom seine These da belegen, wo er die klimabedingte Revolution der europäischen Landwirtschaft beschreibt. In Zeiten schlechterer Ernten hatte der feudale Subsistenz-Ackerbau ausgedient. Um die Ernährung zu sichern, bedurfte es jetzt massenhafter Getreideimporte. Im Gegenzug stellten niederländische Bauern vom unrentabel gewordenen Kornanbau auf Viehwirtschaft um und begannen, die Märkte mit Milchprodukten zu beliefern. Großgrundbesitzer nahmen die verschlechterten Ertragslagen zum Anlass, ihren Besitz mit Pächter- und Gemeindeland zu arrondieren, was unzählige Landlose in die Städte trieb.

Moderne als Folge eines Kälteschocks verdient ein Fragezeichen

Bei anderen Aspekten ist der Zusammenhang weniger evident. Die Anfänge des modernen Staates und, damit einhergehend, der Aufstieg einer bürgerlichen Mittelschicht sind in Frankreich schon im 13. Jahrhundert zu beobachten. Die koloniale Expansion hatte ihre Wurzeln in der Erforschung des Seeweges nach Indien, mit der die Portugiesen um 1400 begannen. Die aufgeklärten Ideen individueller Menschenrechte und einer säkularen Gesellschaft hatten womöglich mehr mit dem konfessionellen Pluralismus zu tun, den die Reformation hervorgebracht hatte, als mit sinkenden Temperaturen.

Blom hat eine lehrreiche Geschichte der Frühneuzeit verfasst, die gewiss auch Anlass gibt, über Zusammenhänge zwischen Klima und Innovation nachzudenken. Die These der Geburt der Moderne aus einem Kälteschock verdient indes ein Fragezeichen.

Deutschlandfunk | Winfried Holderer

» mehr:  http://www.deutschlandfunk.de/kleine-eiszeit-die-folgen-fuer-die-moderne.1310.de.html?dram:article_id=380238

Dieses System hat keine Zukunft mehr

23.7.2017

Kurier.at | Susanne Mauthner-Weber
Philipp Blom ist kein Prophet, sondern Historiker. Trotzdem wagt er eine Vorhersage: Alles wird sich ändern, wenn wir uns nicht ändern.


"Dieses Buch ist ein wütendes Buch, ein verzweifeltes Buch." Philip Blom macht sich Sorgen. "Wir sind die erste Generation in der Geschichte, die die Folgen ihres Handelns bereits kennt. Wir haben auch die wissenschaftlichen Antworten, was wir tun könnten. Aber wir haben keinen Bock, es zu tun. Wir sind noch zu reich. Wir haben den Eindruck, dass unsere Welt alternativlos ist, dass die Wirtschaft alles diktiert. Das entschuldigt uns."
Philipp Blom ist als Historiker auch Kommentator der politischen Gegenwart. In seinem neuen Buch "Was auf dem Spiel steht" (ab morgen im Handel) schreibt er, dass die westlichen Gesellschaften vor einer prekären Wahl stehen: radikale Marktliberale einerseits, autoritäre Populisten andererseits. Beide gaukeln einfache Lösungen für die globalen Herausforderungen vor. Und verspielen so unsere Zukunft.
Blom ist überzeugt, dass "eine Gesellschaft, die keine Hoffnung in die Zukunft hat, nicht lange existieren kann. Und die Hoffnung in die Zukunft haben wir aus gutem Grund nicht – weil wir wissen, dass sich die Gesellschaften durch Migration ändern werden, der Klimawandel kommt, die Jobs wackeln in Folge der Digitalisierung. Wo immer wir hinschauen, ist die Zukunft bedroht."

KURIER: Herr Blom, wollen Sie uns Angst machen?

Philipp Blom: Man wäre blöd, sich keine Sorgen zu machen! Optimismus ist etwas Schönes, aber dummer Optimismus ist gefährlich! Nicht alles, was ich in "Was auf dem Spiel steht" beschreibe, muss so eintreten, aber es ist ein durchaus plausibles Szenario – es könnte so werden.

Was konkret macht Ihnen Sorgen?
Ich bin kein Prophet, sondern Historiker. Ich kann also nicht in die Zukunft schauen, aber ich kann mir als Historiker Strukturen anschauen, die Entwicklungen möglich machen. Und da sind zwei Entwicklungen schlüsselhaft: Das eine ist die Klimaerwärmung und mit ihr Sekundäreffekte wie die Migration. Das zweite ist die Digitalisierung, die immer mehr Jobs unnötig machen wird. Klimawandel und Digitalisierung werden unsere Gesellschaft sehr stark verändern. Und zwar nicht in fünfzig, sondern in zehn, zwanzig Jahren. Da sind jetzt Fehler am Horizont, die eine Spezies nur einmal machen kann. Wenn der Klimawandel aus dem Ruder läuft, ist es plausibel, dass es bald keine hoch entwickelten, urbanen Gesellschaften mehr gibt.
Wenn sich Anbaugebiete nach Norden verlagern, haben Millionen Menschen keine Einkünfte mehr. Sie werden nicht mit dem Klima mitwandern können, denn da ist schon jemand anderer. Sie werden in die großen Städte gehen. Diese Metropolen werden immer unregierbarer werden.
Es ist übrigens egal, ob der Klimawandel menschgemacht ist oder nicht. Diese Entwicklung passiert so oder so. Die einzige Entscheidung, die wir in der Hand haben: Wollen wir das erleiden oder gestalten. Es geht auch nicht darum, dass wir den Planeten zerstören. Das ist eine wahnsinnige Selbstüberschätzung. Wenn wir so weitermachen und der Klimawandel fünf Grad mehr bringt – das schlimmste Szenario –, heißt das: Alle Wetterphänomene, alle Ozeanströmungen kehren sich um. Wenn das passiert und die Menschen verschwinden, wird die Welt bald wieder wunderbar. Es ist also nur in unserem eigenen Interesse. Der Planet braucht uns nicht.

Wenn wir den Klimawandel überstehen, bleibt die Herausforderung Digitalisierung...
Immer mehr Menschen werden keine Arbeit mehr haben, während immer weniger Menschen die Produktionsmittel kontrollieren – die Fabriken haben, die Roboter haben, die Patente haben, die Algorithmen geschrieben haben. Kontrolle und politische Macht werden in immer weniger Händen liegen. Ein immer größerer Teil der Menschen wird für das ökonomische Leben überflüssig sein und nur noch als Konsument gebraucht werden. Diese Menschen haben auch keine Chancen mehr, gesellschaftliche Entwicklungen mitzubestimmen, indem sie das Recht zu streiken in Anspruch nehmen, weil sie keine Arbeit mehr haben – sie sind in der Gesellschaft nutzlos geworden.
Nun ist die Ironie dabei, dass das eine sehr positive Entwicklung sein könnte. Wir könnten nämlich sagen, dass wir die ersten Gesellschaften der Menschheitsgeschichte sind, die sich von der Notwendigkeit der Arbeit emanzipieren können. Der Wohlstand wird trotzdem geschaffen – von Computern, Robotern und Algorithmen. Der Reichtum könnte umverteilt werden.

Damit sind wir beim bedingungslosen Grundeinkommen...
Ich glaube nicht, dass es eine Alternative dazu geben wird.

Damit die Konsumgesellschaft nicht stirbt?
Wir in den westlichen Gesellschaften haben den Menschen seit einer Generation immer wieder eingebläut: Ihr seid keine Bürger, sondern Konsumenten. Das hat Konsequenzen. Die Identität der Menschen ist nicht mehr vom Staat oder der Kirche geprägt, sondern von ihren Konsumentscheidungen. Wir haben diese Konsum-Demokratien geschaffen, weil sie in der Nachkriegszeit sehr attraktiv schienen. Und mit dem gigantischen Wirtschaftswachstum, der Massenproduktion, standen auf einmal Güter zur Verfügung, die es davor für die meisten nicht gegeben hatte. Da war Konsum etwas Transformatives. Und etwas Friedenförderndes.
Ich bin weder gegen Kapitalismus noch gegen Märkte, aber mittlerweile sind wir eingeschlossen in einen Kapitalismus, der gezwungen ist, immer weiter zu wachsen, weil wir alle – auch die Staaten – Schulden haben, die wir nur bedienen können, wenn die Wirtschaft wächst. Es kann nicht so weitergehen. Und das begreifen viele Menschen instinktiv. Das System ist so weit erschüttert, dass das alte demokratische Versprechen: "Deinen Kindern wird es mal besser gehen als dir", nicht mehr stimmt.

Und das lässt Demokratien bröckeln?
Demokratie ist kein Naturzustand, sie ist etwas sehr, sehr Künstliches. Die menschliche Natur ist nicht demokratisch, sondern ziemlich autokratisch. Demokratie kann nur entstehen, wenn die meisten Menschen ihre eigenen Interessen mit dieser Gesellschaftsform identifizieren. Wenn sie denken: Das ist gut für mich, in der Demokratie kann ich arbeiten, erfahre Gerechtigkeit, Sicherheit. Wenn harte Arbeit weder Anerkennung noch Fortkommen zur Folge hat, schaut man sich nach Alternativen um. Und das passiert schon.

Während Sie am Buch arbeiteten, haben Sie sich immer wieder gefragt, ob das alles nicht weit hergeholt sei und Sie hysterisch wären. Sind Sie?
Ich gehe die Argumente immer wieder durch und komme zum Schluss: Nein. Panik ist ein schlechter Ratgeber. Jetzt, wo es uns noch relativ gut geht, haben wir begriffen, dass dieses System keine Zukunft mehr hat. Es wird einen Patchworkteppich an Lösungen brauchen – weniger Energie verbrauchen, weniger konsumieren, weniger fliegen und Urlaub machen. Das setzt voraus, dass wir jetzt ernsthafte und tief greifende Änderungen in unserer Wirtschaft und Gesellschaft beginnen vorzunehmen. Doch dafür sehe ich keine Anzeichen.
Es gibt Politiker, die die Vollbeschäftigung zurück bringen wollen. Es wird nie wieder Vollbeschäftigung geben. Die sind im falschen Jahrhundert. Wir dürfen uns aber nicht auf dumme, ineffiziente, ideologisch fixierte Politiker rausreden. Wir haben sie gewählt. Wir könnten eine neue Partei gründen und Dinge anders tun.
Und wir Alten müssten eigentlich sagen: Keiner über 30 sollte noch Macht haben. Geben wir sie in die Hände derer, die mit diesen Entscheidungen leben werden müssen. Beraten wir sie und helfen wir ihnen, wo wir können, aber machen wir ein Parlament der 20- bis 30-Jährigen. Denn wir können neue Gesellschaften bauen, die in einer Generation genauso normal wären, wie die jetzigen. Die nicht mehr nur auf Konsum ausgerichtet sind, wo Dinge kosten, was sie wirklich kosten, wo wir keine künstlichen Preise mehr haben, wie jetzt, weil Rohmaterialien durch Sklavenarbeit erwirtschaftet werden und Recyclingkosten nicht eingerechnet werden. Der Handlungsbedarf ist gigantisch.

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Wie jüdisch war die Wiener Moderne?

12.12.2019

Jüdische Allgemeine.de  - 12.12.19  - Ellen Presser

Der Historiker und Publizist Philipp Blom hielt die diesjährige Yerushalmi Lecture

Für den Historiker Michael Brenner hat die alljährliche »Yerushalmi Lecture« nicht nur fachliche, sondern auch persönliche Relevanz, ist sie doch seinem Doktorvater, dem bedeutenden amerikanischen Gelehrten Yosef Hayim Yerushalmi (1932–2009), gewidmet. Für die Reihe, die von Anfang an von der Israelitischen Kultusgemeinde unterstützt wurde, konnte dieses Mal ein Referent aus Wien gewonnen werden, der eigentlich aus Hamburg stammt.

Für Brenner gibt es zwischen Namenspatron und Redner eine besondere Brücke, wie er im gut besuchten Uni-Hörsaal zur Einführung verriet. Yerushalmi hatte 1991 eine bemerkenswerte Studie mit dem Titel Freuds Moses. Endliches und unendliches Judentum veröffentlicht. Und der Historiker, Publizist und Übersetzer Philipp Blom hatte einen Vortrag mit dem vielversprechenden Titel »Freuds Lederhosen. Wien um 1900 und die Tücken der Identität« mitgebracht.

ARBEITSFELDER

Pointierte Formulierungen, anschauliche Sprachbilder für komplexe Sachverhalte, geschmeidiger Wechsel zwischen Medien, vom Sachbuch über Film und Ausstellung bis zu Festansprachen wie 2018 zur Eröffnung der Salzburger Festspiele, zeigen die vielfältigen Arbeitsfelder des Referenten.

Eine Phase, die Blom sehr intensiv erforschte, ist die Zeitspanne von 1900 bis 1914 in Europa. Ihr widmete er sein preisgekröntes Buch Der taumelnde Kontinent . Ende des 19. Jahrhunderts, als in ganz Europa Industrialisierung und Technologie auf dem Vormarsch waren, erweist sich Wien aus Bloms Sicht als Sonderfall. Er skizziert das Wachstum der Stadt von einer halben Million Einwohner 1870 auf mehr als zwei Millionen 1918, erläutert, welchen Vorteil volle Bürgerrechte ab 1867 in einem Vielvölkerstaat hatten. Wien habe Talente von außen absorbiert, Wien bedeutete auch für Juden eine enorme Chance.

In seinem Vortrag konzentrierte Blom sich auf die Frage: »Wie jüdisch war die Wiener Moderne?« Antworten suchte er anhand von drei exemplarischen Identitäten, Sigmund Freud, Gustav Mahler und Arthur Schnitzler, und bettete diese ein in seine Erkenntnisse über das Leben in Wien und dessen Wechselwirkung mit der jüdischen Bevölkerung.

VERGLEICHE

Statistische Vergleiche führen zu bemerkenswerten Erkenntnissen. Obwohl oft aus denselben Dörfern der habsburgischen Provinz stammend, blieben die einfachen Christen einfache Arbeiter. Die jüdischen Zuwanderer erhofften sich für die nächste Generation Besseres. Gustav Mahlers Großmutter war Hausiererin, sein Vater war Kutscher und Schankwirt, Freuds Vater war Tuchhändler, Schnitzlers Großvater war Tischler, sein Vater bereits erfolgreicher HNO-Arzt.

Der prozentuale Anteil von Juden an Gymnasiasten, Ärzten, Journalisten und Juristen war schnell höher als der anderer Bevölkerungsgruppen. Nicht als Maler, Bildhauer, Architekten und Produktdesigner seien Juden in Erscheinung getreten, von Einzelfällen wie Richard Gerstl und Koloman Moser abgesehen.

Dafür waren sie sehr präsent als Mäzene, gaben – wenn es ihr beruflicher Erfolg ermöglichte – prächtige Stadthäuser unter anderem bei Adolf Loos oder Bilder bei Gustav Klimt in Auftrag, statteten ihre Häuser bei den Wiener Werkstätten aus. Sie gründeten jüdische Sportklubs, Verbände für jüdische Tierfreunde oder Fleischhauer (sprich: Metzger). Auch existierten allein 22 jüdische Burschenschaften.

Während im jüdischen Viertel in der Leopoldstadt die Zeit stehen zu bleiben schien, suchten aufsteigende Familien »eine neue Ästhetik für eine neue Zeit«, wie Blom resümierte. Über die jüdische Herkunft sprach man nicht mehr. Freud habe früh erkannt, dass in Wien die Fassade alles war. Die meisten Häuser seien aus schlichtem Backstein gebaut, doch der bleibe unsichtbar hinter den prächtigen Fassaden.

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Klimawandel und Digitalisierung werden unsere Gesellschaft umpflügen

19.2.2017

Jetzt hat sich der renommierte Historiker Philipp Blom des historischen Klimawandels angenommen: In "Die Welt aus den Angeln" (erscheint am Montag, 20.02.17) analysiert er, wie sich ändernde Umweltbedingungen erst Europas Gesellschaftsstruktur zerstörten, um schließlich beim Entstehen der modernen Welt Pate zu stehen. Und er erklärt, was das alles mit dem Klima der Gegenwart zu tun hat.

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Europa könnte ganz fürchterlich ins Taumeln kommen

27.6.2016

Interview: Stefan Weiss, 27.6.2016 | www.derstandard.at


STANDARD: Sie haben lang in Großbritannien gelebt. Hat Sie der Ausgang des Referendums überrascht?

Blom: Völlig, muss ich gestehen. Einerseits hatte ich gehört, dass die Wettbüros davon ausgehen, dass Großbritannien bleibt – und die können normalerweise mit ihrem Geld gut umgehen; und zweitens habe ich gedacht, dass am Ende das wirtschaftliche Interesse entscheidend sein wird.

STANDARD: Der britische Sonderweg in Europa ist jahrhundertealt. Wo liegen seine Wurzeln?

Blom: Na zum Beispiel schon bei der Magna Carta von 1215, bei dieser sehr frühen Urkunde demokratischer Mitbestimmung. Dann gab es den Sonderweg der anglikanischen Kirche. Und natürlich hatte das spätere Empire ein Fünftel der Erdbevölkerung unter seiner Kontrolle. Ich habe mich einmal mit einem 80-jährigen Mitglied des House of Lords unterhalten, der mir gesagt hat: "Für mich ist Bombay natürlich näher als Paris." Die mentale Geografie war von vornherein eine andere.

STANDARD: Der französische Politiker Jacques Baumel hat einmal gesagt, für die Briten sei der Ärmelkanal breiter als der Atlantik.

Blom: Er ist zumindest gleich breit, ja. Großbritannien verortet sich mental sicherlich irgendwo in der Mitte des Atlantiks. Dass aber Allianzen zu seinen unmittelbaren Nachbarn etwas ganz Natürliches sein sollten, wird Großbritannien jetzt zu erheblichen Kosten lernen müssen.

STANDARD: Als Kulturhistoriker kennen Sie die Mentalitäten der Europäer. Wie viel britische Mentalität war denn bei diesem Referendum dabei?

Blom: Referenden sollte man wahrscheinlich nur in Gesellschaften durchführen, die eine entsprechende Kultur für solche Volksentscheide haben. Ansonsten werden solche Abstimmungen sofort dazu benutzt, der Regierung wegen allen möglichen anderen Dingen einen Dämpfer zu geben. Gerade bei den Geringverdienenden hat David Cameron enorme Kahlschläge gemacht, ganze Regionen wurden wirtschaftlich verkrüppelt. Es ging so weit, dass Bibliotheken geschlossen wurden – und die werden in Großbritannien nicht nur zum Lesen verwendet, sondern auch zum Wärmen im Winter. Jetzt kam Cameron mit dieser völlig sinnlosen Idee des Referendums. Es gab nicht einmal ein Volksbegehren in diese Richtung, er wollte lediglich den rechten Flügel seiner Partei befrieden. Großbritannien hat sich gigantisch ins Knie geschossen. Gerade für die Jungen wird das sehr harte Konsequenzen haben.

STANDARD: Die Jüngeren haben mit großer Mehrheit für den Verbleib gestimmt und fühlen sich von der älteren Landbevölkerung verraten. Ein Schlag ins Gesicht der vielbeschworenen Erasmus-Generation?

Blom: Die demografischen Muster zur österreichischen Bundespräsidentenwahl sind übrigens sehr ähnlich. Es ist ein Schlag ins Gesicht der Sparpolitik David Camerons, würde ich sagen. Die älteren Wähler wollten den Jungen sicherlich nichts verbauen. Aber genau das haben sie getan. Denn klarerweise sind die Jungen nicht glücklich, wenn sie jetzt nicht wie gewohnt reisen, studieren oder in der EU arbeiten können.

STANDARD: Dass die Jungen für den Verbleib waren, beweist aber auch, dass die EU-Bildungsinstrumente und der kulturelle Austausch funktionieren oder?

Blom: Das müsste man sich genauer ansehen. Ich weiß nicht, ob es jetzt am Bildungsgrad liegt oder einfach daran, dass für junge Leute Nationalstaaten nicht mehr so wichtig sind, dass sie mobiler sind und sich ihre Kultur auch aus anderen Erdteilen holen. Ich glaube, junge Menschen konstruieren ihre eigene Identität anders, nicht mehr so begrenzt auf einen eigenen Nationalstaat. Der Vertrag von Schengen ist ja etwas wahnsinnig Lebensmächtiges, wenn ich weiß, ich kann nach Lust und Laune in ein anderes Land fahren, wo Leute eine andere Sprache sprechen, und ich brauche noch nicht einmal einen Pass dafür. Das müsste man ja eigentlich ausbauen. Ich fände es wunderbar, wenn es etwa ein soziales Jahr für alle jungen Europäer in einem anderen Land gäbe. Sodass jeder die Normalität des Andersseins erleben kann. Ein Versäumnis der EU ist es, dass sie ihre Vorteile für die Menschen nicht deutlich genug hervorstreicht.

STANDARD: Ein starkes Motiv war aber offenbar auch die Flüchtlingskrise.

Blom: Ja, aber vergessen Sie nicht, dass sich die meisten europäischen Länder der "Lösung Merkel" ja jetzt schon verweigert haben. Es gibt also keinen Grund, deswegen aus der EU auszutreten, denn dieser Schwenk ist schon geschehen. Großbritannien wird außerdem weiterhin Arbeitsmigration erlauben müssen. Gerade große Probleme wie die Flüchtlingskrise und der Klimawandel brauchten einen großen Pool an Akteuren. Wenn man schon kein sentimentaler Europäer ist, müsste einen das zumindest zum pragmatischen Europäer werden lassen. Ein einziger Nationalstaat hat auf diese Fragen überhaupt keine Antworten mehr und keinerlei Gewicht in Verhandlungen mit China oder den USA.

STANDARD: Braucht es mehr "sentimentale Europäer", wie Sie es nennen?

Blom: Nicht unbedingt. Man kann auch sagen: "Ich mag meinen Nachbar nicht, aber den Garten müssen wir trotzdem gemeinsam mähen." Man muss nicht alle anderen lieben, aber man sollte sehen, dass wir gemeinsame Interessen haben.

STANDARD: Durchaus sentimental waren die mehr als 300 Kulturschaffenden, von Tracey Emin bis Vivienne Westwood, die sich für den Verbleib ausgesprochen haben. Sie fürchten um Förderungen und die grenzüberschreitende Kooperation.

Blom: Diese Ängste sind absolut berechtigt. Großbritannien hat eine starke Kulturszene, aber Kultur lebt vom Austausch und nicht von Isolation. Das hat auch praktische Probleme, etwa wenn Sie mit einem Orchester durch Europa touren wollen – das wird wohl wesentlich bürokratischer und damit teurer. Diese identitäre Opposition, zwischen Nigel Farage und dem rechten Flügel der Tories, interessiert das natürlich nicht. Wenn 300 Künstler gegen den Brexit aufstehen, dann sind das genau die Feindbilder, gegen die diese Menschen eigentlich stimmen wollen. Da heißt es dann: "Die von der Elite wollen bleiben. Also stimmen wir dagegen."

STANDARD: Michael Dobbs, Tories-Politiker und Autor der literarischen Vorlage für die Politserie "House of Cards", meinte, das britische Kulturschaffen sei kein Verdienst der Europäischen Union. Mit Blick auf die Popmusik muss man wohl sagen, dass das stimmt, oder?

Blom: Das schon. Auch die Wiener Philharmoniker sind kein Verdienst der EU. Aber all diese Kulturschaffenden arbeiten besser, wenn sie sich im intensiven Austausch mit ihren europäischen Kollegen befinden.

STANDARD: Könnten leistbare Städte wie Berlin oder auch Wien jetzt kulturell profitieren, indem sie noch mehr Künstler anziehen?

Blom: Das kann ich mir durchaus vorstellen. Man weiß zwar noch überhaupt nicht, wie Reisefreiheit oder Steuern in Zukunft nach diesem Brexit geregelt werden. Aber wenn einem als Künstler sein europäisches Publikum wichtig ist, dann wäre der Umzug nach Berlin oder Wien sicherlich eine Option. Auch die Wohnungsnot in GB wird durch den Brexit nicht gelöst.

STANDARD: Die gesamte Sprachausbildung hat sich in Kontinentaleuropa nach britischem Englisch orientiert. Wird sich das ändern?

Blom: Ich glaube, dass das amerikanische Vorbild stärker werden wird. Weil es durch Hollywood und die Popkultur sowieso schon viel weiter vorgedrungen ist. Wenn Sie englischsprechenden Jugendlichen in Österreich zuhören, dann sprechen die vielleicht eher mit britischem Akzent, aber mit amerikanischer Intonation und amerikanischem Wortschatz.

STANDARD: Die Probleme der EU sind multipel: Angst vor Zuwanderung im Osten, ökonomische Notlagen im Süden, Konflikte vor der Haustür, Terrorgefahr und Polarisierung an den politischen Rändern. Mit Anspielung auf ihr Buch: Ist der Kontinent wieder ins Taumeln gekommen?

Blom: Ich glaube, er könnte ganz fürchterlich ins Taumeln kommen, denn diese Probleme sind groß. Es gibt sicherlich keine gute Lösung für die Migrationskrise: Denn einerseits müssen die europäischen Länder ihren sozialen Frieden bewahren und können daher nicht alle Menschen hereinlassen, die kommen wollen. Andererseits haben wir natürlich eine humanitäre Verantwortung für Menschen, die Not leiden. Und das wird immer ein Weg mit Kompromissen sein müssen. Nur hoffentlich nicht so, dass wir Leute wie Erdoğan dafür bezahlen, dass er Flüchtlinge an den Grenzen mit Waffengewalt abhält. Wir sind aufgewachsen mit 60 Jahren Frieden und steigendem Wohlstand, und wir sehen das als die natürliche Ordnung der Dinge an. Nur ist das eigentlich nie die natürliche Ordnung der Dinge gewesen, denn das waren Not und Krieg. Wir glauben, dass wir ein Menschenrecht darauf haben, in Ruhe und Wohlstand zu leben. Aber das wird sich ändern. Die Konzeption der Menschenrechte ist noch so jung. Die könnten sehr schnell wieder verschwinden. Es gibt genügend Bewegungen in Europa, die diese Rechte anzweifeln. Und das sind keine Spinner, die bald wieder verschwinden werden. Ich glaube: Wenn wir in dieser aufgeheizten Stimmung noch eine Finanzkrise wie 2008 erleben, dann könnte ganz Europa eine gigantische Weimarer Republik werden, in der kaum noch funktionierende Staaten versuchen, riesige Spannungen auszuhalten. In den vergangenen Jahren ist vieles passiert, was kluge politische Beobachter niemals für möglich gehalten hätten. Wir wären daher töricht zu glauben, dass so etwas wie ein europäischer Bürgerkrieg nicht wieder passieren könnte.

STANDARD: Wie wichtig wäre ein noch engeres Zusammenrücken von Frankreich und Deutschland?

Blom: Eine schwierige Frage. Braucht Europa eine Art Motorblock, der das Ding antreibt? Denn dieser Block stottert ganz gewaltig. Frankreich ist im Moment so blockiert, dass es möglicherweise gar nicht die Energien hätte, das europäische Projekt weiterzutreiben. Und dann bliebe es durch eine historische Absurdität wieder an der deutschen Kanzlerin hängen. Die ist zwar nicht dafür gewählt, europäisches Staatsoberhaupt zu sein. Aber nolens volens nimmt sie das wahr, weil es niemand anderen gibt, der das kann. Weil sie die Wirtschaftsleistung hinter sich hat, die genau das möglich macht. Aber das ist natürlich nicht das, was eine demokratische Union sein soll. Die Alternative dazu findet derzeit keine Mehrheit.

STANDARD: Vereinigte Staaten von Europa?

Blom: Genau das brauchen wir, wenn wir handlungsfähig sein wollen. Ich glaube, Europa steht vor drei großen Herausforderungen: ein instabiles Russland, das die Bedrohung eines Krieges wieder aufziehen lässt, die Digitalisierung, die uns Millionen an Arbeitsplätzen kosten wird, und die Sekundärfolgen des Klimawandels. Das sind Sachen, die ein einzelner Nationalstaat nicht schaffen kann.

STANDARD: Unlängst haben Sie mit Blick auf Islamisten und Rechtspopulisten vor einer "Kultur der Verengung" gewarnt.

Blom: Es hat sich eine neue politische Spaltung ergeben. Und die verläuft nicht zwischen säkular und religiös oder rechts und links, sondern zwischen einem "liberalen Traum" und einem "autoritären Traum". Dieser liberale Traum, der auf der Aufklärung und der Freiheit des Individuums aufbaut, der ist das, was unsere demokratischen Staaten geschaffen hat. Aber er kann natürlich auch ökonomisch gedeutet werden. Das heißt, als die Freiheit des Starken gegen die Schwachen. Und dann haben wir die heutige neoliberale Situation, wodurch sich eine enorme Spaltung der Gesellschaft ergibt. Und dann hat dieser liberale Traum auch noch einen Fehler, und das ist jener, dass Freiheit auch als Zwang empfunden werden kann. Freiheit heißt auch Entwurzelung. Auf Englisch unterscheidet man in "Sense of Space" und "Sense of Place" – der liberale Traum hat einem den Space, den Raum um sich herum, ermöglicht, aber den Place, die Identität, die Herkunft, zum Teil geraubt. Das ist ein schwieriger Lebensentwurf, der viele Menschen überfordert. Der autoritäre Traum, der nicht in Individuen, sondern in Kollektiven – Völker, Nationen oder Religionen – denkt, der gibt vor, dazu eine Alternative zu bieten. Dieser Traum verbindet die Rekruten vom IS ("Islamischen Staat", Anm. d. Red.) mit den identitären Bewegungen in Europa, aber auch mit Donald Trump, Putin oder Erdoğan.

STANDARD: Wie kann die liberale Mitte dagegen argumentieren?

Blom: Sehr schwer. Denn Menschen wählen mit ihrem Bauch, nicht mit dem Kopf. Wir müssten wieder ein Klima schaffen, in dem mehr Menschen wieder eingebunden werden in ein Hoffnungsnarrativ. Das ist die Herausforderung.

STANDARD: Eine dieser identitären Gruppen hat in Österreich zuletzt mit antiislamischen Aktionen in Kultur- und Bildungseinrichtungen für Aufsehen gesorgt. Wird hier der Versuch unternommen, die tendenziell linksliberale Hegemonie im kulturellen Feld zu stören?

Blom: Ja sicherlich. Denn in gewisser Weise gibt es diese Hegemonie natürlich. Wir linksliberalen Menschen glauben, dass das so ist, weil wir mehr analysieren und auf Fakten schauen. Aber es geht auch darum, dass das kulturelle Feld auf eben diesem internationalen Austausch basiert, der den identitären Kräften ein Dorn im Auge ist.

STANDARD: Wie sollten Kultureinrichtungen mit solchen Kräften umgehen? Den Dialog führen, sie ignorieren oder dagegen ankämpfen?

Blom: Es gibt Identitäre von höflichen Universitätsprofessoren bis hin zu kahlen Neonazis. Daher glaube ich, dass man das selbstständig von Fall zu Fall entscheiden muss. Zu Debatten gehört jedenfalls die gegenseitige Bereitschaft, auf Basis von Fakten zu kommunizieren. Demokratie baut darauf auf, dass man mit Menschen spricht, die nicht derselben Meinung sind, und einen Kompromiss findet, der offene Gewalt verhindert. Es wird kein Patentrezept für den sozialen Frieden geben. Aber wir müssen versuchen deutlich zu machen, dass offene Gesellschaften stärkere Gesellschaften sind. Und dass diese Offenheit tatsächlich Vorteile für jeden bringt und nicht nur bessere Theateraufführungen. Aber wenn man aufhört, miteinander zu sprechen, dann hat man eine gespaltene Gesellschaft.

STANDARD: Wie in der Zwischenkriegszeit. Blom: Ja. Und von dieser Zeit trennt uns im Moment nur Wohlstand. Und der kann sehr schnell dahin sein. Wir leben in einer Welt, die auf Hyperspekulation aufgebaut ist. Und aus dieser Blase muss immer wieder die Luft rausgelassen werden. Und wenn das das nächste Mal passiert, kann es gut sein, dass wir einer echten europäischen Bürgerkriegsgefahr entgegensehen.

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Jeder drängt in die Opferrolle

21.5.2019

Kurier – 21.05.2019 - Ute Brühl, Helmut Brandstätter


Ein Gespräch mit dem Historiker und PhilosophenPhilippBlom.Er fordert nichts anderes als eine neue Aufklärung. Und er hat eine Antwort auf die Frage, warum die Rechtspopulisten derzeit so beliebt sind.

Er fordert nichts anderes als eine neue Aufklärung. Und er hat eine Antwort auf die Frage, warum die Rechtspopulisten derzeit so beliebt sind. Ein Gespräch mit dem Historiker und Philosoph Philipp Blom.

KURIER: Das Video mit Heinz Christian Strache bewegt Österreich. Viele FPÖ-Anhänger stehen aber weiter zu ihm. Warum?


Philipp Blom: Viele Anhänger distanzieren sich tatsächlich – die Leute sind ja nicht dumm. Wenn man aber so viel Angst hat, dass man bereit ist, jede Verschwörungstheorie zu glauben, dann ist so ein Video eher die Bestätigung der eigenen Paranoia. Das können Politiker dann ausnutzen.

Wie kann man enttäuschte Wähler zurückgewinnen?

Das hängt leider nicht nur von guten Programmen ab, sondern auch von überzeugenden Persönlichkeiten. Erst in so einer Situation zeigt sich, wer wirklich die Fähigkeit hat, den Moment zu nutzen und vielleicht sogar positiv zu wirken. Alexander van der Bellen ist so ein Beispiel.

Der Philosoph Jürgen Habermas meinte, dass man Rechtspopulisten nicht inhaltlich begegnen soll, sondern sie als Wegbegleiter des Faschismus brandmarken. Soll man mit Rechten also nicht diskutieren?


Es gibt ein Niveau, auf dem man nicht diskutieren kann und auch nicht sollte. Etwa dann, wenn eine Partei den Klimawandel leugnet, und Persönlichkeiten in die Öffentlichkeit schiebt, die diese These festigen. Wenn Menschen sich Fakten verweigern, hat es keinen Sinn, mit ihnen eine politische Diskussion zu führen.

Das Interessante: Es schadet Populisten nicht, wenn sie keine Konzepte haben, etwa für das Pensionssystem.

Sie spielen das ewige Spiel der Opposition und der Opfer. DieOpferrolleist in unserer Kultur die mächtigste geworden – in die möchten sich alle hineinmogeln. Das gilt besonders bei Rechtspopulisten, weshalb sie Israel entdeckt haben: Beide sehen sich als Opfer eines radikalen Islam. Der israelische MinisterpräsidentBenjamin Netanjahulebt einen ethnischen Nationalstaat vor und hat den ultimativen Opferstatus – das ist eine ganz gefährliche Kombination. Das Schöne am Opferstatus ist: Man ist moralisch nicht verantwortlich und kann extrem handeln. Doch aus dieserOpferrollehinaus zu kommen, ist Voraussetzung für eine vernünftige Diskussion.

Intellektuelle stehen fassungslos vor dem Phänomen. Da Populisten in der realen Welt eine große Rolle spielen, können sie uns die Welt nicht mehr erklären.

Ich glaube, da gibt es eine andere Dynamik. Sicher, ein linksliberales Establishment hat sich ein bisschen dumm gesiegt. Es hatte in vielen Medien und in der Kulturlandschaft eine dominante Rolle – besonders nach den Erfahrungen mit dem Faschismus. Es gab eine Selbstzufriedenheit, weil man wusste, dass man auf der Seite des Rechts steht. Vor relativ kurzer Zeit hat sich gezeigt, dass die Rechtsaußen nicht blöd sind. Sie haben zugeschaut und gelernt, wie Revolutions- und Identitätspolitik aussieht – und wie man sich den Opferstatus erarbeitet.

Und wie man Begriffe festlegt.

Richtig. Sie haben der linken Politik die Waffen aus der Hand geschlagen. Jetzt sind linke und liberale Intellektuelle fassungslos und sagen: Wie können die das wagen? Das ist doch unser Instrumentarium. Darauf haben wir keine Antwort gefunden.

Wo es Antworten gibt, nutzen sie nichts, weil die Bedeutung von Journalismus abnimmt: Information erhalten wir über Algorithmen. Recherchieren und Diskussionen zu entfachen wird schwieriger. Menschen wird zugespielt, was sie schon glauben.

Ja – Algorithmen können schon jetzt gute und witzige Artikel schreiben. Die Menschen haben allerdings schon immer ideologisch gefärbte Medien konsumiert.

Was hat sich geändert?

Soziale Medien sind von Psychologen designt, um direkt zu unserem Echsenhirn zu sprechen. Das ist eine viel stärkere Droge und hat eine stärkere Wirkung als eine gedruckte Zeitung. Außerdem: In der sozialistischen Revolution warBildungetwas Entscheidendes. Sie war eine Waffe der Arbeiterklasse, um sich Gleichheit zu erkämpfen. Das ist sie heute nicht mehr.

Es ist also ein Versagen der Sozialdemokratie.

Es ist auch der Tatsache geschuldet, dass gewisse Ziele erreicht wurden.Bildungist heute kein Wert an sich mehr, sondern ein Luxus für ein paar konservative Bürger, die insBurgtheatergehen. Das ist eine Tragödie. DennBildunggibt einem – hoffentlich – die Mittel, die Welt besser zu verstehen: zum Beispiel, welche Geschichten bestimmte politische Ideen haben, wozu sie führen können oder geführt haben. Man kann zudem einschätzen, was realistisch ist und was nicht. Ich bin erstaunt über die Schwemme von Verschwörungstheorien, die aus Mündern relativ rationaler Menschen kommen. Natürlich ist es einfacher zu fühlen, als zu denken. Denken ist lästig – deshalb muss es kultiviert werden.

Deshalb brauchen wir eine neue Aufklärung.

Ja. Man kann jetzt den großen kulturellen Wurf machen. Etwa im Kontext der Klimakatastrophe begreifen, dass der Mensch keine besondere Kreatur ist, die über die Schöpfung erhaben ist, sondern ein Organismus, der weniger wichtig ist als Plankton. Aus eigenem Interesse muss er sehen, dass er Teil dieses Ökosystems bleibt. Das wäre für mich eine neue Aufklärung: eine eigene Rolle auf der Welt zu definieren. Die brauchen wir, um uns selbstkritisch gegenüber den derzeitig enorm galoppierenden Entwicklungen zu verhalten. Unser erster Reflex ist da ja meist: Bequemlichkeit und noch mehr soziale Medien zu konsumieren.

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"Was mich fasziniert, sind Momente des Umbruch" - Historiker Philipp Blom über Geschichte und Geschichten

20.1.2022

Doppelkopf - Andreas Bomba - 20.01.2022


"Demokratien sind die historische Ausnahme, nicht das Ziel der Geschichte", meint der Historiker Philipp Blom in seiner Geschichte der Kleinen Eiszeit. Das Klimaphänomen suchte die nördliche Halbkugel während des 17. Jahrhunderts heim und wird verantwortlich gemacht für gesellschaftliche Verwerfungen aller Art, mit dem Dreißigjährigen Krieg als grausamem Höhepunkt. Eine Folie für die Klimakrise der Gegenwart, ihre Folgen und ihre Bewältigung? Zusammenbrüche sind nie das Ende, meint Blom; aus Krisen entsteht immer etwas Neues, auch wenn es unsere Weise zu leben und zu wirtschaften radikal in Frage stellen wird.


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Auf den Spuren der Klimaveränderung

20.2.2017

In „Die Welt aus den Angeln“ begibt sich der deutsche Schriftsteller und Historiker Philipp Blom auf die Spuren einer historischen Klimaveränderung: „Eine Geschichte der Kleinen Eiszeit von 1570 bis 1700 sowie der Entstehung der modernen Welt, verbunden mit einigen Überlegungen zum Klima der Gegenwart“ lautet der ausführliche Untertitel. Dahinter verbirgt sich nicht nur Klimageschichte, sondern das Panorama einer ganzen Epoche.
Männer mit Straußenfedern auf dem Hut, Frauen mit Spitzenhauben, Herrschaften beim Betteln oder mit dem Eishockeyschläger in der Hand, auf Schlittschuhen oder Pferdewagen - Hendrick Avercamps Gemälde „Winterlandschaft“ von etwa 1608 zeigt das wimmelnde Leben, versammelt auf den zugefrorenen Grachten Amsterdams.
Ein Gemälde als Allegorie: Die Kleine Eiszeit, die in der Zeitspanne von etwa 1550 bis 1850 Europa heimsuchte, traf alle Menschen, egal ob reich oder arm, jung oder alt. Avercamp war übrigens nicht der Einzige, der sie in Bildern verewigte - die Museen sind heute voll mit Winterlandschaften und Eislaufsujets aus der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts, als berühmtestes Bild gilt Pieter Bruegels „Die Jäger im Schnee“.

Verregnete Sommer, extreme Dürren

Idyllisch, wie die Niederländer das gesellschaftliche Treiben darstellten, war es jedoch selten. Wie Blom in seinem Buch zeigt, brachte die Abkühlung um durchschnittlich zwei Grad nicht nur mehr Kälte, sondern wirbelte auch die Strömungen der Ozeane und die klimatischen Kreisläufe durcheinander, was dazu führte, dass Europa von extremen Klimaereignissen heimgesucht wurde.
1569 war die Lagune von Venedig bis in den März hinein zugefroren. In Amsterdam kam es 1574 durch einen Sturm zum Dammbruch und damit zu einem abrupten Anstieg des Wasserspiegels, sodass man, wie ein Zeitzeuge berichtete, „von einem Haus zum anderen mit dem Boot fahren konnte“. In England wiederum führte die Dürre 1666 zum „Great Fire of London“. Durch einen kleinen Brand, der sich rasch über das trockene Gebälk der Fachwerkshäuser ausdehnte, gingen letztlich 13.000 Gebäude in Flammen auf.
Am umfassendsten und einschneidendsten waren jedoch die Auswirkungen des Klimawandels auf die Landwirtschaft: Kurze und verregnete Sommer führten periodisch zu katastrophalen Missernten in der Getreide- und Weinproduktion, vor allem in den Gesellschaften der Alpenregionen und der nördlichen Teile Europas. In Russland starben zwischen 1601 und 1603 ca. drei Millionen Menschen an Hunger und Seuchen, ausgelöst durch Ernteengpässe.

Rätselhafte Ursachen

Was dazu führte, dass die Natur derart aus den Fugen geriet, ist bis heute rätselhaft geblieben: Man glaubt, dass Abweichungen in der Erdachsenrotation und eine verminderte Sonnenaktivität eine Rolle spielten. Wirklich nachweisen kann man beides aber erst für das späte 17. Jahrhundert. Und die steigende Anzahl an Vulkanausbrüchen, die durch den aufgewirbelten Staub zu einer geringeren Sonneneinstrahlung beitrugen, erklärt nur besonders extreme, kurzfristigere Temperatureinbrüche.
Mit Sicherheit weiß man jedoch, dass die extremen Klimaereignisse nicht nur Leid, Hunger und Tod mit sich brachten, sondern auch die Menschheit für immer veränderten: „Die Welt aus den Angeln“ galt auch für die soziale Ordnung und das Wirtschaftssystem. Die Missernten kurbelten den Handel stark an und führten etwa zur Abschaffung der gemeinschaftlich geführten Allmenden und Umstellung auf weniger riskante Viehwirtschaft.
Diese Neuordnung der Landwirtschaft wiederum befeuerte - ebenso wie die Hungersnöte - Aufstände und soziale Unruhen, die ihrerseits die politischen Verhältnisse destabilisierten. Und sie zwang Hunderttausende Bauern dazu, in die Städte zu flüchten, wo sie mit der Schrift und neuen Ideen in Kontakt kamen.

Vom Feudalismus zum Kapitalismus

Blom interessiert sich für diese Periode, weil, wie er im Interview mit ORF.at erklärt, „sie den Anfang der Aufklärung, den großen Zivilisationsumbruch von einem feudalen zu einem kapitalistischen Europa markiert“. Aus den Lehren der damaligen Entwicklung lassen sich laut Blom durchaus Schlüsse für die Gegenwart ziehen: „Wenn man daraus eine Schlussfolgerung ziehen kann, dann ist es die, dass auch die Mächtigsten nicht überleben können, wenn sie in Zeiten des Strukturwandels an ihren Strukturen festhalten.“
Während der Kleinen Eiszeit, so zeigt Blom auf, verschoben sich Europas Kräfteverhältnisse. Die ursprüngliche Weltmacht Spanien versank in Inflation und Chaos, die Niederlande hingegen, die schon früh den Handel für sich entdeckten, entwickelten sich von einem Land von Heringsfischern und Bauern zu einer der mächtigsten Seemächte der Welt - und zu einem Zentrum der kulturellen Innovation.

So klug wie vor 400 Jahren

Trotz der oft etwas lose aneinandergereihten Erzählungen ist es das Verdienst von Bloms Buchs, die Klimaveränderung als Katalysator des sozialen Wandels herauszuarbeiten. Simple Übertragungen auf heute seien, so Blom, aber nicht angebracht. „Tatsache ist, dass der Klimawandel in einer globalisierten Welt auch ganz andere globalisierte Auswirkungen hat.“ Vergleichbar sei lediglich, so lautet sein pessimistisches Resümee, dass wir, „trotzdem wir die erste Generation der Menschheit sind, die eine relativ gute Vorstellung von den Konsequenzen ihres Handelns hat, nicht viel dagegen tun. Leider zeigt sich da, dass wir genauso klug wie die Menschen im 17. Jahrhundert sind.“

Paula Pfoser, für ORF.at
» mehr: http://orf.at/stories/2379703/2379702/

Let Me Tell You a Story

6.6.2018

Eine Veranstaltung der Sigmund Freud Privatstiftung in Kooperation mit der Gesellschaft der Ärzte in Wien anlässlich des Geburtstages von Sigmund Freud am 6. Mai 2018


Geschichten prägen unsere Gedanken, unsere Gefühle und unsere innersten Regungen. Durch sie werden wir Teil einer bestimmten Familie, einer Kultur, einer sozialen Klasse, einer Generation – durch sie erst werden wir zu dem, was uns ausmacht. Tatsächlich scheinen menschliche Wesen ein starkes Verlangen nach zukunftsgerichtetem Sinn, nach einer Handlung mit Anfang, Mitte und Ende, zu haben. Wir alle sind ständig versucht, all jenen Dingen, die rund um uns und mit uns passieren, eine Bedeutung zu geben. Wir brauchen Geschichten, um der Zufälligkeit von Erfahrung Sinn zu verleihen.
Wie aber ist unsere Beziehung zu diesen uns formenden Geschichten und zu unserem Verlangen nach ihnen? In meiner Sigmund Freud Vorlesung möchte ich die Bedeutungen des Geschichten-Erzählens angesichts der gegenwärtigen Krise der Sprache und der sachlichen Berichterstattung aus der Perspektive des Historikers und professionellen Geschichtenerzählers erkunden, zu dessen Aufgaben es zählt, aus Fakten Bedeutung zu gewinnen. In Begleitung von Denis Diderot und Sigmund Freud werde ich untersuchen, wie ein Leben mit unserem Verlangen nach dem Kontrafaktischen, der guten Mär, der fesselnden Geschichte und der ständigen Versuchung, unseren Unglauben außer Kraft zu setzen, möglich ist. Schließlich ist die Macht von Geschichten höchst ambivalent.
(Philipp Blom, 2018)

» Video ansehen: https://www.billrothhaus.at/index.php?option=com_billrothtv&void=4476
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„Kampf ums Weltgericht“: Trauma, Liebe, Ränkespiel

23.2.2022

Frankfurter Allgemeine - 23.02.2022 - BuchMarkt
In Philipp Bloms bildstarkem Barockepos  Diebe des Lichts trifft Kunst auf Macht. Die Handlung ist fesselnd, aber auch recht plakativ. „Kurz gesagt: Das Buch ist ein Schmöker, aber kein schlechter. Wer ein sprach­sicheres, bildstarkes Romanepos sucht, das zwischen Umberto Ecos literatur­geschichtlich anspruchsvoller Erzählweise und der historischen Plakatmalerei à la Iny Lorentz zu verorten ist, kann mit Diebe des Lichts wenig falsch machen, zumal der renommierte Autor, ein promovierter Historiker, weiß, wovon er schreibt. Das Buch hebt sich aber auch wohltuend von Ken Folletts rechercheprallem Anekdotenstil ab.“


Philipp Blom, Diebe des Lichts (Blessing)

Der neue Blom

23.2.2017

In seinem neuen Buch "Die Welt aus den Angeln" kehrt der Schriftsteller und Historiker ins Europa der kleinen Eiszeit zurück und zeigt, wie ein eklatanter Klimawandel das gesellschaftliche Klima verändern kann.

Eiszeit und Alkohol

Von der Kleinen Eiszeit sprechen Historiker heute, wenn es um die Jahre von 1570 bis 1700 geht. Die Themse fror in London damals so dick zu, dass ganze Jahrmärkte auf dem Eis abgehalten wurden und selbst in den Herrscherpalästen kam man mit dem Heizen nicht mehr nach, so dass der französische König eines Morgens mit vereistem Bart aufwachte. Zähe Feldfrüchte wie Kartoffeln oder Mais traten ihren Siegeszug an und auch in Sachen Alkohol kam es zu einer Revolution. Philipp Blom: "Vor der kleinen Eiszeit wurde Wein bis ins südliche Norwegen angebaut. Viele Regionen mussten den Weinanbau völlig aufgeben, weil man den Alkohol aber als Grundnahrungsmittel brauchte – Wasser war in den meisten Fällen zu verschmutzt und deshalb ungenießbar oder krankheitserregend -, ist Bier in Europa ein wichtigeres Getränk geworden."

Aufklärung versus Aberglauben

Die massive Kälte und das Auftauchen von Kometenerscheinungen wurden als göttliche Zeichen gesehen, es folgte eine Zeit verstärkter Religiosität, Hexenverfolgungen nahmen zu und Heilsverkünder und Magiere schafften es als Berater bis an die Herrscherhöfe. Doch als Gegenreaktion entwickelten sich auch aufklärerische Gedanken. Die Philosophen wollten nicht mehr Gott, sondern der Natur auf die Spur kommen, führten Debatten, in denen nicht mehr der Glauben, sondern Wissenschaft und Logik den Ton angaben und forderten Menschenrechte ein. Und sie fanden Möglichkeiten, ihre revolutionären Ideen auch effizient zu verbreiten, und zwar, so Philipp Blom, "Flugblätter und Pamphlete, denn die konnte man heimlich drucken und mit den Methoden der populären Kommunikation verbreiten, sei es mit Bildern und Versen gekoppelt, als Pornographie verkleidet oder sensationalistisch aufgemacht."

Das Kippen der Macht

Der Klimawandel sorgte auch für eine Umkehrung der politischen Verhältnisse. Der Süden verlor seine Vormachtstellung, Spanien segelte im wahrsten Sinn des Wortes, innerhalb von nicht einmal hundert Jahren vier Mal in den Staatsbankrott, dafür wurde eine bislang unbedeutende Kleinstadt an der Nordsee zum neuen Finanz- und Handelszentrum. Der neue Reichtum, aber auch die tolerante Atmosphäre Amsterdams sorgten überdies dafür, dass sich Künstler und Denker hier ansiedelten.

Vorbildliches Amsterdam

Während große Teile Europas im 30jährigen Krieg versanken, wurde Amsterdam zum Auffangbecken für Flüchtlinge und wusste mit dieser spannenden Situation auch äußerst kreativ und effizient umzugehen. Ein Lehrbeispiel für die Gegenwart, so Philipp Blom: "Ich glaube, dass wir in Gesellschaften leben, die sehr stark darauf fußen, dass sie keine Veränderung wollen. Das Problem ist: Das ist keine Wahl, die sich uns stellt. Der Klimawandel findet statt und wird, deshalb habe ich dieses Buch geschrieben, viel mehr in unseren Gesellschaften verändern als dass es nur ein bisschen wärmer wird. Und ich glaube, es wäre besser, wenn wir uns da etwas von den Niederländern abschauen würden und diese enormen Veränderungen tatsächlich ergreifen würden und versuchen, sie zu gestalten, anstatt sie später nur zu erleiden."

Offenheit als Trumpf
Wie immer bei Philipp Blom muss man auch bei „Die Welt aus den Angeln“ kein hartgesottener Historiker sein, um das Buch mit Genuss zu lesen. Dieses Mal kommt aber noch etwas hinzu. Anhand ganz konkreter Beispiele zeigt Blom nämlich, dass Krisenzeiten spannend sind und ungeheure Möglichkeiten bieten, mit der Voraussetzung halt, dass man sich nicht verschließt, sondern öffnet.

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http://oe1.orf.at/artikel/461956

"Die Flüchtlingsströme markieren eine Zeitenwende"

13.12.2015

Entweder machen die Verantwortlichen Europas Grenzen dicht und degradieren es zu einer Landzunge Asiens, die allenfalls noch als Museum für Kunstschätze taugt - oder aber sie kosmopolitisieren Europa und beziehen aus dem «melting pot» neue Stärke. Das kann aber nur gelingen, wenn mit dem Liberalismus ernst gemacht wird und die Geltung der Menschenrechte endlich so verstanden wird, dass alle Menschen davon profitieren.
Barbara Bleisch im Gespräch mit dem Historiker Philipp Blom über die Zeitenwende, vor der die Menschen in Europa stehen.
6. Dezember 2015

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Philipp Blom: "Was auf dem Spiel steht" – Die Verweigerung der Zukunft

29.7.2017

Deutschlandfunk Kultur  |  Maike Albath

Klimakatastrophe, Krise der Demokratie, Verlust des Gemeinwohls, Zusammenbruch der EU: Der Historiker und Journalist Philipp Blom zeichnet die Zukunft unserer Gesellschaft schwarz. Und hat doch Hoffnung auf Veränderung zum Guten.
Klimakatastrophe, Krise der Demokratie, Verlust des Gemeinwohls, Zusammenbruch der EU: Der Historiker und Journalist Philipp Blom zeichnet die Zukunft unserer Gesellschaft schwarz. Und hat doch Hoffnung auf Veränderung zum Guten.

Maike Albath: Sie sprechen, Herr Blom, von einer Verweigerung der Zukunft in Europa und in den Ländern, in denen eigentlich alles gut läuft. Was genau macht Ihnen da Sorgen?

Philipp Blom: Ich habe sehr stark das Gefühl, dass wir Gesellschaften sind, die begriffen haben, Veränderung wird wahrscheinlich nichts Gutes für uns bedeuten. Das heißt, Veränderungen sind knirschende Sozialsysteme, das ist Klimawandel, das ist Migration, das ist Terrorismus. Das wollen wir eigentlich gar nicht. Sondern wir wollen vor allen Dingen, wir wollen nicht ein besseres Morgen, sondern wir wollen, dass das Heute nicht aufhört.
Das ist nun mal nicht möglich, und ich glaube auch, eine Gesellschaft, die keine Hoffnung mehr in eine bessere Zukunft hat, ist wirklich in einer ernsthaften Situation, und dazu kommt das mit dem Klimawandel, der bereits stattfindet, und der Digitalisierung, die uns immer mehr Jobs kosten wird, große Veränderungen auf uns zukommen. Das heißt, die Veränderungen, die wir verhindern wollen, die kommen, und es ist jetzt nur noch unsere Wahl, wollen wir diese Veränderungen gestalten, indem wir sie schnell genug anpacken oder wollen wir sie erleiden, indem wir sie einfach kommen lassen.

Albath: Ein Punkt, der sehr wichtig ist, ist die Digitalisierung. Die Präsenz dieser Firmen wie Google und Facebook, die nicht gewählte Institutionen ja fast sind mittlerweile – Sie nennen auch die Zahlen –, die bekommen eine ungeheure Macht über das, was wir wissen. Was droht da genau, und wie könnte man dem entgegenstehen?

Der öffentliche Raum zerbröckelt in Facebook-Gruppen

Blom: Wissen Sie, es ist sehr interessant. Es klingt jetzt ein bisschen abstrakt, aber man kann das sehr schön illustrieren: Gesellschaften organisieren sich auch immer nach den Technologien, die sie haben. Also sehen Sie, was der Buchdruck mit den europäischen Gesellschaften angerichtet hat oder wie er sie verändert hat und wie da ein öffentlicher Raum entstanden ist, aus dem letztendlich auch Demokratie entstehen konnte, und dann die Industrialisierung, was die verändert hat, aber jetzt sind wir eben in diesem digitalen Zeitalter.
Wir sehen es jetzt schon: Wir haben es bei Brexit gesehen und bei der Trump-Wahl, wie unglaublich wichtig da die digitale Manipulation von Wählerstimmen war, von Wählerinformationen war, und wie verheerend es ist, dass eben dieser öffentliche Raum inzwischen zerbröckelt ist in Facebook-Gruppen, wo man nur noch das hört, was man hören will und auch gar keinem Widerspruch mehr begegnet, und das sind Dinge, die sind mit den Demokratien, wie wir sie im Moment haben, nicht vereinbar. Wie können wir dagegenstehen – das ist eine große Frage.
Ich bin kein Technologieexperte. Ich meine, wenn Sie das wirklich verhindern wollen, dann dürfen Sie keine Computer verwenden, aber es wird sicherlich auch eine viel größere Rolle für Gesetzgebung geben, und wir müssen verhindern, dass durch die Digitalisierung immer mehr Macht in immer weniger Hände gerät – Macht, Informationen, Daten, Produktionsmittel, Algorithmen. Ich meine, wir haben das Phänomen Mark Zuckerberg erlebt in den letzten Jahren, wie ein Harvardstudent zu einem der mächtigsten und reichsten Menschen der Welt innerhalb von wenigen Jahren geworden ist, weil er eine clevere Idee hatte. Ich glaube, Mark Zuckerberg wird aussehen wie ein Chorknabe neben der nächsten Generation von Digitalbaronen, die dann tatsächlich unsere Demokratien und unsere Gesellschaften ja auf eine Weise beherrschen, die wir noch gar nicht abschätzen können.

Das emanzipatorische Potenzial des Marktes

Albath: Nun muss man bei Monopolbildungen – das gab es ja häufig im Laufe der Geschichte, auch bei der Eisenbahn – immer erst gesetzgeberisch reagieren, wenn sie denn dann da sind. Etwas, das ich aus Ihrem Buch erfahren habe, Philipp Blom, ist, dass emanzipatorische Potenziale des Marktes, das Sie ja auch erwähnen, und dann geht es aber bei Ihnen doch auch sehr ausführlich darum, dass Konsum heute das einzige Paradigma ist. Also funktioniert der Konsum im Moment als Mittel der Ruhigstellung? Wie sehen Sie das?

Blom: Also zuerst mal, ich finde es immer ein bisschen langweilig, wenn Leute dann in Marktschelte ausbrechen und sagen, das ist alles der böse Kapitalismus. Kapitalismus an sich ist nicht böse. Ohne Märkte gäbe es auch keine Demokratien. Dieser Platz von Austausch, von Ideen und auch Waren, das ist ganz wichtig, und auch Konkurrenz kann wichtig sein, aber es gibt keinen freien Markt. Das ist eine Illusion. Ein Markt kann zum Beispiel nur bestehen, wenn Verträge garantiert werden durch Gerichte, durch Gesetze, durch Polizei. Er kann seine Waren nur bewegen, wenn es Straßen gibt und so weiter.
Das heißt, der Markt kann nur innerhalb einer Gesellschaft existieren, und dann wäre es sinnvoll zu sagen, dann soll der Markt auch für diese Gesellschaft funktionieren und nicht andersrum, und ich glaube, im Moment ist es wesentlich stärker geworden, dass wir für den Markt da sind, dass wir als Marktteilnehmer gesehen werden und dass wir eben auch viel stärker angesprochen werden als Konsumenten als als Bürger, und das ist ein großer Unterschied, denn ein Bürger lebt in einem Gemeinwesen und hat seine Rechte und seine Pflichten und hat da seine Positionen. Ein Konsument hat genau eine Pflicht, und das ist die, Kredit zu haben und diesen Kredit bedienen zu können. Danach hat er nur noch Rechte. Und wenn er auf etwas keinen Bock hat, dann macht er das halt nicht.
Diese Haltung wird sehr schwierig, wenn wir in einer Zeit sind, wo wir sehen, wir haben einen ziemlich kleinen Zeithorizont, um sehr, sehr große Entscheidungen zu treffen, Entscheidungen, die ganze Generationen beeinflussen werden nach uns, und da ist die Haltung, ich habe keinen Bock, einfach nicht hilfreich. Dann müssen wir sagen, wir müssen jetzt gemeinsam tun, was nötig ist, und das ist natürlich sehr schwierig in pluralistischen, demokratischen Gesellschaften, in denen es zu jedem Argument auch ein Gegenargument gibt, und dann kann vielleicht irgendwann eine Diskussion losgehen, aber noch nicht einmal das ist wirklich geschehen.

Hoffnung trotz Pessimismus

Albath: Ihr Buch, Philipp Blom, hat insgesamt doch eher einen pessimistischen Grundtenor, war mein Eindruck – also Klimakatastrophe, Krise der Demokratie, Verlust des Gemeinwohls, Zusammenbruch möglicherweise der EU. Ich hatte den Verdacht, dass das vielleicht dazu führen könnte, dass man sehr alarmiert ist, aber am Ende den Eindruck hat, die Probleme sind viel zu groß, wie soll man da noch etwas tun.

Blom: Wissen Sie, meine Aufgabe ist es nicht, sozusagen als Kindergärtner den Menschen eine nette Version der Sachen zu präsentieren. Ich weise hin, oder versuche das, auf sehr, sehr kritische Potenziale, die sehr einfach sehr schiefgehen können. Das heißt nicht, dass sie das auch tun werden, aber das liegt an uns, und da setzt mein Pessimismus ein, denn ich glaube, mit Gesellschaften aus Konsumenten ist das sehr schwer zu bewerkstelligen. Wenn Menschen heute sagen, na, aber warum denn, uns geht es doch noch gut, wir haben jetzt mehr als je zuvor, und wir wollen das auch behalten, dann ist das eine Situation, mit der man nur sehr schwierig arbeiten kann in diese Richtung.
Das aber, was mir Hoffnung macht, ist, dass ich als Historiker auch weiß, es gibt so viele Dinge, die völlig unmöglich waren oder schienen und die dann plötzlich einfach Wirklichkeit wurden. Das fängt an mit der Idee von Menschenrechten; das fängt an mit der Emanzipation von Sklaven, von Frauen; das geht weiter zum Beispiel, als ich ein Junge war in Nordrhein-Westfalen in den 70er- und 80er-Jahren, da gab es eigentlich keine Schwulen. Die hat man nirgendwo gesehen, die wurden nirgendwo erwähnt, und ich kam eigentlich aus einem ganz liberalen Elternhaus, aber das war einfach so, der gesellschaftliche Ton, das hat man nicht besprochen, das gab es nicht. Im Nachhinein weiß ich natürlich, dass viele unserer Bekannten und Freunde schwul waren, aber das anders oder gar nicht gezeigt haben oder nur sehr engen Freunden, aber jetzt gibt es die Homoehe, und jetzt ist das eigentlich überhaupt kein Problem mehr, jetzt ist es selbstverständlich, und das ist was, das sind 20, 30 Jahre – das ist wahnsinnig kurz. Das heißt, wenn es möglich ist, so viel zu verändern in so kurzer Zeit, dann sollten wir auch Hoffnung haben, dass es sich lohnt, die Ärmel aufzukrempeln und das tatsächlich anzupacken.

Albath: Vielen Dank, Philipp Blom!

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http://www.deutschlandfunkkultur.de/philipp-blom-was-auf-dem-spiel-steht-die-verweigerung-der.1270.de.html?dram:article_id=392276

Das Erfolgsrezept der Kleinen Eiszeit ist zur Falle geworden

18.8.2017

Die Wochenzeitung | Raul Zelik

WOZ: Herr Blom, Ihr vorletztes Buch, «Die Welt aus den Angeln», verhandelt den Klimawandel des 17. Jahrhunderts: die sogenannte Kleine Eiszeit. Sie beginnen mit der «Winterlandschaft» des niederländischen Renaissancemalers Hendrick Avercamp. Warum?

Philipp Blom: Zuvor war weder der Winter noch die Landschaft ein Sujet der Malerei gewesen. Mit der Kleinen Eiszeit wird die Natur zu einem Objekt der Betrachtung – ganz einfach deshalb, weil ihre Zyklen auf einmal so gestört sind. Das Genre der Winterlandschaften hat aber auch etwas von «Wimmelbildern» ihrer Zeit. Man sieht ganz viele Menschen, ohne dass es einen ersichtlichen Anlass dafür gäbe. Alle wirken ganz glücklich auf dem Eis. Keiner macht Feuer, niemand scheint zu frieren. Man begreift also bald, dass es sich um ein allegorisches Bild handelt. Arme und Reiche teilen etwas: Alle bewegen sich auf dünnem Eis. Die Menschen sind voneinander abhängig, auch die Aristokraten können im Eisloch verschwinden. Und als ironisches Echo schwebt oben in der Mitte des Bildes ein Vogel. Dort, wo eigentlich der Heilige Geist sein sollte. Es ist, als wäre Gott bereits ein wenig verschwunden.

Der grosse Sozialhistoriker Fernand Braudel zeichnete die Frühgeschichte des Kapitalismus einst anhand von Krankheiten, Städten und Handel nach. Sie machen etwas Ähnliches auf der Grundlage des Wetters.
Wir sind daran gewöhnt, Geschichte als menschliche Geschichte – der Bücher, Schlachten und adeligen Hochzeiten – zu betrachten. Dahinter steckten die Vorstellung des 19. Jahrhunderts und, noch weiter zurückreichend, die des Christentums, dass wir uns als erhaben gegenüber der Natur begreifen. In Wirklichkeit jedoch sind wir eine Primatenart, die genauso von der Natur abhängig ist wie alle anderen Tierarten.

Inwiefern trug die Kleine Eiszeit, für die es ja noch keine eindeutige Erklärung gibt, zum Sprung in die kapitalistische Moderne bei?
Obwohl die Ursache der Kleinen Eiszeit nicht geklärt ist, kann man ihren Verlauf sehr genau rekonstruieren. Um 1570 herum setzt eine erste grosse Kältewelle ein, gegen 1685 oder 1700 klingen die schlimmsten Kältewellen wieder ab. Damals lebte ganz Europa vom Getreideanbau, und durch die Klimaveränderung kam es immer häufiger zu Missernten. Das erschütterte die Fundamente der Gesellschaft: Es gab dreimal mehr Hungersnöte als zuvor, Krankheiten breiteten sich aus, der Getreidepreis stieg. Vor diesem Hintergrund musste man nach Neuem suchen, und dies tat eine neue Art Mensch: Leute, die in Städten wohnten und lesen und schreiben konnten. Heute würde man sie wohl als Mittelschicht bezeichnen. Sie waren bereit, über die alten Strukturen hinauszudenken. Sie betrieben Handwerk nicht mehr nur im Zunftwesen, entwickelten das Konzept der Manufaktur und den Handel und wurden empirischer in der Naturbetrachtung.

Aber Bildung hatte doch in Teilen Europas, etwa in den Städten Italiens, schon zuvor eine wachsende Bedeutung erlangt.
Richtig, aber die Renaissance war ein Elitephänomen geblieben, und die Reformation, die im 16. Jahrhundert das politische Leben erschütterte, zog noch kein neues Wissensparadigma nach sich. Die meisten Menschen lebten auf dem Land und hatten wenig Berührung mit Geld. Der «Jahrmarkt» hiess so, weil er nur einmal im Jahr stattfand. Sprich: Die Märkte spielten eine sehr untergeordnete Rolle, entscheidend waren die Höfe. In der Krise der Kleinen Eiszeit, die übrigens global ist, reagieren die Menschen an manchen Orten anders. Amsterdam zum Beispiel ist damals eine kleine, unbedeutende Stadt. Doch einige Händler beginnen, Getreide vom Baltikum zu importieren, wo die Felder grösser sind und weniger Bevölkerung lebt. Die Amsterdamer begreifen aber auch, dass sie dieses Modell ausdehnen können. Sie fahren nach «Ostindien», also Südostasien, um Gewürze einzukaufen, oder importieren Zucker und Tabak von den Sklavenplantagen der Karibik. Um das finanzielle Risiko, das der Verlust eines voll beladenen Schiffs darstellt, abzufedern, wird die Börse gegründet. So entsteht insgesamt ein anderer Zugang zur Welt.

Wie veränderten sich dadurch das Verhalten der einzelnen Menschen und ihre Biografien?
Wenn ein Handwerker früher reich geworden war, hatte er ein paar Häuser gekauft, war aber Handwerker geblieben. Er investierte höchstens in sein soziales Kapital – stiftete zum Beispiel Kirchenfenster. Jetzt jedoch versuchten Menschen, aktiv in der Gesellschaft aufzusteigen. Der Vater Rembrandts war ein Müller gewesen, hatte den Sohn aber auf die Lateinschule geschickt. Wie sehr sich das Kulturparadigma änderte, erkennt man auch an den Antworten auf die Eiszeit. Am Anfang waren diese völlig mittelalterlich: Prozessionen, Bittgottesdienste, Hexenverfolgung. Der grosse Komet von 1680 wird vom Schriftsteller Pierre Bayle hingegen nur noch naturwissenschaftlich erklärt. Das, was man da am Himmel sehe, schreibt Bayle, sei kein Bote Gottes, sondern einfach nur ein Steinklumpen.

Das ist aber keine klare Abfolge, sondern eine Art Doppelbewegung: zum einen der Aberglaube, zum anderen die radikale Aufklärung eines Baruch Spinoza, den Sie im Buch ja auch erwähnen. Da drängt sich der Vergleich mit der Gegenwart auf, in der Regression und Emanzipation nebeneinanderstehen.
Ich würde die in der Kleinen Eiszeit stattfindende Entwicklung zur Moderne als Bewegung von der Festung zum Markt beschreiben. Hier kommt die Erkenntnis des ungarischen Ökonomen Karl Polanyi zum Tragen, dass Märkte nicht isoliert existieren. Im realen Leben gibt es keine «freien Märkte». Die Gesellschaft muss ihnen Infrastruktur und einen legalen Rahmen bereitstellen. Umgekehrt wiederum verändern die Märkte die Gesellschaft, und das historisch nicht nur negativ: Sie privilegieren zum Beispiel Toleranz, regelbasiertes Handeln, Rechtssysteme. Heute erleben wir eine ähnliche Spannung. Ein grosser Teil unserer Gesellschaft will in Märkten leben, aber immer mehr wünschen sich auch zurück in die Festung. Märkte sind nämlich sehr schlecht darin, Menschen ein Gefühl von Zugehörigkeit, Sicherheit und Identität zu geben. Ausserdem verlangen sie ständige Transformation. Das ist besonders grausam für diejenigen, die für Veränderung nicht belohnt werden. Insofern ist es verständlich, dass die Festung, die eine verlässliche Identität anbietet, als Vision zurückkehrt.

Was heißt das für die Demokratie? Vielerorts ist sie heute unter Druck.
Weder Markt noch Festung ist notwendigerweise demokratisch. Der Markt ist es eher, weil er Offenheit und Transparenz benötigt. Aber wir erleben heute, dass die freigesetzten Märkte an demokratischer Partizipation nicht interessiert sind und das ganze Instrumentarium der Aufklärung ökonomisch reduzieren: Freiheit als Konsumentenfreiheit, Rationalität als Rationalisierung. Die andere Option – die Festung – ist aber noch verhängnisvoller. Der Mauerbau wird hier als Antwort auf die zerfliessende, amorphe Moderne und den Verlust der Orientierung präsentiert.

Ein Ausdruck der Krise heute scheint ja auch zu sein, dass sich die Gefahr von Kriegen wieder verschärft. Blicken wir noch einmal zurück: War der Dreissigjährige Krieg, der ja auch ins 17. Jahrhundert fällt, eine Folge der Kleinen Eiszeit?
Nein, er beginnt als innerhabsburgischer Machtkonflikt zwischen protestantischen Fürsten und ihrem katholischen Kaiser. Aber die Innovation, die mit der aufsteigenden Mittelschicht kommt, spielt auch für die Kriegführung eine grosse Rolle. Der Adel kassiert wegen der schlechten Ernte weniger Steuern, gleichzeitig wird die Kriegführung jedoch viel teurer. Die technologische Innovation, vor allem die Entwicklung der Musketen, zieht eine echte Revolution nach sich. Es ist eine sehr effektive Waffe, für die die Soldaten aber viel besser ausgebildet werden müssen. Sie müssen lernen, mit welchen standardisierten Bewegungen sie möglichst effizient feuern und nachladen können. Wir erleben hier eine Art Industrialisierung. Um die Soldaten zu trainieren, wurden sie kaserniert, was die Kriegführung viel teurer machte. Weil Fürstentümer und Königreiche in Konkurrenz zueinander standen, beschleunigte dies auch die Bildung administrativer Staaten, die die Erhebung von Steuern organisierten. Und die Merkantilisten, eigentlich die ersten ökonomischen Denker Europas, reflektieren das theoretisch und sagen etwas erstaunlich Aktuelles: Die Wirtschaft ist für sie ein Nullsummenspiel. Wenn ich reich werde, werden die Nachbarländer ärmer. Es geht also darum, billig zu produzieren und zu exportieren, um Gold zu importieren. Und wer soll diese billige Produktion gewährleisten?

Natürlich die Armen.
Genau. Sie dürfen nicht verhungern, sollen aber auch nicht glauben, dass sie ein Anrecht auf eine bessere Stellung hätten. Man muss sie kleinhalten. Hier entsteht ein wirtschaftliches Paradigma, das bis heute Bestand hat: Wirtschaftswachstum, das auf Ausbeutung beruht. Mit diesem Rezept stieg Europa zur dominierenden ökonomischen Macht in der Welt auf. Und genau dieses auf Ausbeutung beruhende Wirtschaftswachstum wird heute zur Bedrohung unserer Gesellschaften. Denn unendliches Wachstum kann es nicht geben. Das Erfolgsrezept der Kleinen Eiszeit ist zur Falle geworden.

Warum setzt sich in dieser Phase im 17. Jahrhundert eigentlich Europa als globales Zentrum durch? Die Herausforderung des Klimawandels betraf ja auch andere Weltregionen.
Darauf habe ich keine gute Antwort. Es hat sicherlich mit technologischen Voraussetzungen wie dem Buchdruck, dem Schiffsbau oder der Entwicklung der Feuerwaffen zu tun. Das gab es auf anderen Kontinenten nicht oder nicht in derselben Form. Aber das bedeutet ja nicht, dass es das nicht anderswo hätte geben können. Das ist eines der grossen Rätsel der Geschichte. Europa war nicht zivilisierter als andere Regionen der Welt.

Der Siegeszug des merkantilistischen Prinzips geht einher mit der gewaltsamen Privatisierung des Gemeindelandes und der Zerschlagung einer von Gerechtigkeitsideen gehegten Wirtschaft. Karl Polanyi hat diesen Prozess auch als «Entbettung der Märkte» bezeichnet. Viele Gesellschaftskritikerinnen und -kritiker greifen heute wieder auf Polanyi zurück. Worin sehen Sie seine Aktualität begründet?
Karl Polanyi ist so wichtig, weil er sich weigert, Ökonomie isoliert zu betrachten. Für ihn ist sie nur ein bestimmter Ausdruck der menschlichen Gesellschaft. Das heisst, es ist nicht egal, wie wir zum Markt in unseren Gesellschaften stehen. Die Wippbewegung zwischen Gesellschaft und Markt muss immer wieder neu kalibriert werden. Und gerade weil die gegenteilige Behauptung zu einem Dogma geworden ist, muss man es betonen: Es gibt keine «freien Märkte». Märkte können nur existieren, weil es Strassen gibt, auf denen Waren transportiert werden, weil Menschen in Schulen lesen und schreiben gelernt haben und weil ein ganzes Instrumentarium existiert – Gesetze, Polizei, Gerichte –, um die Erfüllung von Verträgen zu garantieren.
Was ich an Polanyi zudem grossartig finde, ist seine Fähigkeit, Erkenntnisse en passant fallen zu lassen. Zum Beispiel, dass es die Aufgabe von Politik ist, Veränderung so zu verlangsamen, dass sie sozial verdaubar ist. Wir sollten allerdings auch nicht vergessen, dass er ein Stalinist war und die Verbrechen in der Sowjetunion als Kollateralschäden behandelte.

Sie haben schon erwähnt, dass Aufklärung und Ausbeutung in der Geschichte des Westens miteinander verzahnt waren. Beruht die westliche Freiheits- und Menschenrechtsidee auf Selbsttäuschung?
Selbstverständlich, und wir sollten uns dessen immer bewusst sein. Was bringt mir Freiheit, wenn ich Hunger habe? Um die Voraussetzungen für die Realisierung von Freiheit zu schaffen, brauchen wir die Infrastruktur einer Gesellschaft. Diese Infrastruktur haben wir aufgebaut, indem wir Menschen – Industriearbeiter, Kolonisierte und so weiter – unterdrückt haben. Das alles bedeutet jedoch nicht, dass die Freiheitsidee an sich korrupt wäre. Es heisst, dass wir erstens dafür sorgen müssen, die Freiheit auf andere Beine zu stellen, und zweitens, dass wir bescheidener auf die Geschichte anderer Zivilisationen blicken sollten. Die liberalen Demokratien, wie wir sie heute kennen, sind kein Naturzustand. Frauen durften in Frankreich erst 1947 wählen, in der Schweiz 1971, in Appenzell 1991. Dass es diesen demokratischen Fortschritt gab, hat viel mit Wirtschaftswachstum zu tun – einem Wachstum, das auf dem rasant steigenden Verbrauch fossiler Brennstoffe beruhte. Unsere Demokratien wären ohne Erdölboom so nicht entstanden. Und wir wissen nicht, wie Demokratien ohne steigenden Wohlstand funktionieren sollen. Das fundamentale Versprechen war ja: «Deinen Kindern wird es besser gehen.» Aber das bedeutet, dass die Wirtschaft weiterwachsen muss – was augenscheinlich ein wahnsinniges Modell ist.

Im Buch werfen Sie die Frage nach dem Klimawandel nur implizit auf. Deswegen haben Sie gleich noch ein zweites Buch hinterhergeschoben: «Was auf dem Spiel steht». Ziehen Sie für uns die Parallele: Stellt der Klimawandel, den wir heute erleben, ähnlich wie die Kleine Eiszeit des 17. Jahrhunderts auch eine Chance dar? Könnte er die emanzipatorischen Seiten der Aufklärung weitertreiben?
Ja, er könnte. Aber ich glaube nicht, dass wir das schnell genug schaffen werden. Es gibt verschiedene Modelle zur Berechnung des Klimawandels, und darin spielen «Kipppunkte» eine wichtige Rolle. Wenn die einmal überschritten sind, gehen die Veränderungen automatisch weiter. Wir wissen nicht genau, wo sie liegen und ob wir sie nicht vielleicht sogar schon überschritten haben. Klar ist jedoch, dass wir sehr wenig Zeit haben werden – im besten Fall eine Generation. Und der Inhalt der Köpfe lässt sich ja nicht einfach austauschen. Wir haben die Menschen sehr lange dazu erzogen, sich nicht als Bürger, sondern als Konsumenten zu begreifen. Ihre einzige Verpflichtung besteht darin, Schulden zu bedienen. Ansonsten können sie machen, wozu sie Bock haben – was im Übrigen auch ein genialer Mechanismus ist, um Menschen unter Druck zu setzen. Sie werden nämlich nie gut genug sein, um den religiösen Ikonen gerecht zu werden, die ihnen von den Werbeflächen entgegenlächeln.
Uns ist bewusst, dass wir die Gesellschaft grundlegend ändern müssen, wenn wir als Zivilisation, vielleicht sogar als Spezies nicht verschwinden wollen. Die Technologien und Ideen für den notwendigen Wandel sind da. Doch er impliziert, dass wir auf manche Dinge verzichten müssten: Wir werden weniger konsumieren, weniger mobil sein.

Wie sollen wir die Menschen von einer solchen Transformation überzeugen?
Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich will gar keine Marktschelte betreiben. Ich glaube, dass Kapitalismus in vielen Gesellschaften das beste Modell ist. Sozialismus funktioniert nur, wenn alle Menschen davon überzeugt sind. Ansonsten muss man anfangen, einen Unterdrückerstaat zu etablieren. Der Kapitalismus hingegen ist extrem gut darin, Menschen mit ganz unterschiedlichen Weltanschauungen zum gleichen regelbasierten Handeln zu bewegen. Und in pluralistischen Gesellschaften, die wir ja wollen, ist das etwas sehr Wertvolles. Aber es ist klar, dass wir den Markt intelligent verwenden müssten, um uns Menschen und dem Rest der Natur ein besseres Leben zu ermöglichen. Heute ist es andersrum, heute beherrschen diese Werkzeuge uns.

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Philipp Blom: Danach regieren wieder Mikroben

22.9.2022

Die Presse - ESSAY - 22.09.22
Die Unterwerfung der Natur prägt das Selbstbild vieler Gesellschaften – doch das hat, wie sich jetzt zeigt, seinen Preis. Wir sollten, statt Homo sapiens als Herrn der Schöpfung zu begreifen, ihn als zutiefst in alle möglichen Zusammenhänge verstricktes Tier verstehen. Ein Vorabdruck.

Die Unterwerfung der Natur ist längst zu einer globalen Praxis geworden. In Gesellschaften, die sich gerne als aufgeklärt verstehen und die auch häufig auf eine christliche Tradition zurückblicken, ist dieser Wahn in Naturverständnis und Menschenbild besonders tief verwurzelt. Er wird in Familien und Schulen weitergegeben, findet sich als Muster in Geschichten, Filmen und Video-Games, auch in Gesetzen, Bemerkungen und sogar Witzen, aus denen heraus die soziale Welt sich den Einzelnen als Träger der gleichen Bezüge darbietet.

Diese Unterwerfung prägt den Weltzugang und das Selbstbild vieler Gesellschaften, die sich auf ein gemeinsames Erbe berufen. Aus ihrer Perspektive heraus stellt sich die Geschichte als eine Ausbreitung der Zivilisation und die Entfaltung des Fortschritts dar, der durch Zufall oder Vorsehung in der eigenen Lebensweise oder einer sehr ähnlichen seinen höchsten Ausdruck findet. Der Aufstieg vom Nomadentum zu Ackerbau, Stadtkulturen, Schrift und Geld, Rad und Eisenbahn, Menschenrechten, liberalen Demokratien und globalen Märkten scheint mit unaufhaltsamem Momentum voranzuschreiten.

So zumindest beschrieben es Beobachter im sogenannten Westen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, aber die Geschichte hat gleich mehrere andere Wendungen genommen. Die Eschatologie der liberalen Demokratien und der liberalen Märkte ist einerseits von der Techno-Zukunft des Silicon Valley abgelöst worden, das dieselbe alte Sehnsucht in neue Bilder kleidet und als Transhumanismus, Besiedlung ferner Planeten oder Herrschaft der Künstlichen Intelligenz inszeniert. Auf anderen Gebieten ist dieses Narrativ an der Wirklichkeit zerbrochen, von der Klimakatastrophe bis hin zum Aufbrechen postimperialer Wunden und Demütigungen vom Mittleren Osten bis in die Ukraine. Jenseits dieser offensichtlichen Konflikte rasen die Missachtung natürlicher Systeme und der damit verbundene Kollaps der Biodiversität einer vorhersehbaren Katastrophe zu. Anstatt eines himmlischen Jerusalem erscheinen in der mittleren Distanz ein Sodom und Gomorrha.

Das gezähmte und beherrschte Land, der unterworfene Planet, zeigt sich überfordert von so viel willkürlicher und plötzlicher Manipulation. Organische Verbindungen, über Jahrmillionen entstanden und in der Erde gespeichert, wurden innerhalb von wenigen Jahrzehnten wieder in die Atmosphäre geblasen: Ihre Energie befeuerte den rapiden Aufstieg einer Spezies zu ungeahnter Macht.Wenn Sie Gefallen an diesem Artikel gefunden haben, loggen Sie sich doch ein oder wählen Sie eines unserer Angebote um fortzufahren.
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Lehren aus der Corona-Krise Historiker Blom: „Wir können mehr, als wir uns zutrauen“

8.4.2021

Deutschlandfunk - 21.03.2021 - Michael Köhler

Wie wir derzeit mit der Natur umgingen, das „wird zum Selbstmordtrip“, sagt der Historiker und Autor Philipp Blom im Dlf. „Es braucht ein gemeinsames gesellschaftliches Projekt“, aber kein Politiker biete derzeit eine Vision einer besseren Zukunft. Die Reaktion auf die Corona-Krise mache aber Hoffnung.

Philipp Blom im Gespräch mit Michael Köhler

Was derzeit durch die Corona-Pandemie geschehe, sei schwer mit der Idee vereinbar, dass wir die Natur beherrschten, sagt der Philosoph und Historiker Philipp Blom. „Wir haben gesehen, wie verwundbar wir sind: Mit der Idee, dass wir frei sind. Mit der Idee, dass Märkte alles regeln. Mit der Idee, dass die Globalisierung uns wesentliche Vorteile bringt. Ganz viele Grundwahrheiten, die wir heute haben, sind dadurch ganz stark ins Wanken geraten.“ Durch die Pandemie habe man gemerkt, dass wir nicht so stark auf den Beinen stünden, wie wir immer dachten und uns viele Antworten fehlten.

„Das wird zum Selbstmordtrip, was wir da machen“

Er sei weder gegen Kapitalismus noch gegen Globalisierung, aber unser Konsum auf Kosten der Natur sei ein „enden wollendes Modell“. Die Kritik daran sei aber immer abgeprallt. In der Corona-Krise hätte man nun aber als Staaten die Zügel in die Hand genommen und innerhalb von wenigen Tagen umgesteuert. „Wir haben beschlossen, Menschen zu beschützen, die nicht ökonomisch produktiv sind, nämlich alte Leute.“ Die Tatsache, dass es auch anders gehe, sei aus Diskussionen nun nicht mehr wegzudenken, so der Philosoph und Autor. Man habe gesehen: „Wenn es wirklich hart auf hart kommt, dann können wir mehr, als wir uns zutrauen.“
Die Idee einer bronzezeitlichen Gesellschaft, dass sich die Natur unters Knie zwingen lässt, die beiße nun auf Granit. Die Zivilisation habe zu viele Effekte auf die Natur und verändere die Systeme zu stark. „Und das wird zum Selbstmordtrip, was wir da machen.“ Derzeit hätten wir keine Wahl, als uns neu zu orientieren und eine andere Wirtschaft aufzubauen. „Und nicht mehr Krieg gegen die Zukunft führen, indem wir kommenden Generationen Ressourcen wegnehmen, die sie für die Zukunft brauchen.“

Logik der Kooperation um zu Überleben

Es sei eine Tragödie, dass vor allem die reichen Länder derzeit ohne Zukunft seien. „Kein Politiker, keine Politikerin gibt uns eine Vision einer besseren Zukunft am Horizont. Das Beste, das wir können, ist Statuserhalt. Das reicht nicht für eine Gesellschaft. Man muss irgendwohin gehen wollen gemeinsam. Es braucht ein gemeinsames gesellschaftliches Projekt.“ Dieses Projekt hätte man, wenn man die Herausforderungen der Klimakatastrophe anginge. „Aber im Moment drücken wir uns davor, weil wir noch sehr reich sind.“

Dennoch lernten sich die Menschen gerade ganz neu kennen „als ein kleines Rädchen im gigantischen Mechanismus der Natur.“ Dieser Prozess bedeute aber auch, dass sich die Menschen von alten Logiken verabschieden müssten, beispielsweise von Eroberung, Herrschaft und Unterdrückung. Aus der Notwendigkeit könne man zu einer Logik der Kooperation übergehen. „Nicht, weil wir bessere Menschen geworden sind, sondern weil es als die einzige Weise zu schein seid, wie wir unser Überleben Sichern können“, so Blom. 

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Die Erde braucht uns nicht

28.12.2017

derstandard.de - 28.12.2017 - Bettina Pfluger

Digitalisierung und Klimawandel läuten das Ende der Demokratie ein, sagt Philipp Blom

Wir leben in einer Gesellschaft, in der die Zukunft keine Verheißung mehr ist, sondern als Bedrohung wahrgenommen wird. Die Verteidigung von Privilegien gilt als Geißel unserer Zeit. So schreibt es Philipp Blom in seinem aktuellen Buch "Was auf dem Spiel steht". Darin entwirft der Historiker ein düsteres Bild von unserer Zukunft. So düster, dass er manchmal selbst damit hadert, ob er das Geschriebene wirklich glauben will. Im Buch wirft eine Forscherin aus der Zukunft einen Blick auf das Heute. Was wird sie sich fragen, fragt Blom. Wohl warum wir gegen die aktuellen Bedrohungen – Digitalisierung, Klimawandel, Hyperkonsum – nicht reagiert und gegengesteuert haben. Denn sie haben laut Blom die Macht, das Ende der Demokratie einzuläuten.

STANDARD: Sie sagen, das Versprechen, dass die Kinder es später besser haben werden als die Erwachsenen heute, gilt nicht mehr. Warum?

Blom: Weil die wenigsten glauben, dass ihre Kinder es besser haben werden. Ein Teil der Bevölkerung hat begriffen, dass unser Wohlstand nicht zu übertreffen ist. Der andere Teil sieht, dass sie keine fairen Aufstiegschancen haben. Es wird nicht gelingen, Wohlstand laufend zu steigern.

STANDARD: Liegt es also auch daran, dass eine Generation nun von Geburt an materiell abgesichert war?

Blom: Es ist unsere historische Erfahrung, dass Krieg das Wirtschaftswachstum angefacht hat. Es ist weder wirtschaftlich möglich noch politisch ratsam noch psychologisch durchzuhalten, dieses Wachstum durch Konsum und damit Identität durch Konsum weiter anzuheizen. Durch den Rohstoffabbau zerstören wir Lebensgrundlagen. Wenn wir hier nicht reagieren, kann das nur in eine problematische Richtung gehen.

STANDARD: Es gibt auch Gegentrends. Junge Erwachsene setzen auf Sharing, Resteverwertung, Upcycling etc. Materieller Besitz wird heute oft auch als Belastung empfunden.

Blom: Ja, es gibt Gegenbewegungen. Die Frage ist aber, über welche soziale Gruppe wir sprechen. Wie viel Prozent der Bevölkerung repräsentieren diese Bewegungen. In der Demokratie reicht es nicht, wenn eine kleine Elite solche Dinge tut. Es ist eine echte Gefahr zu glauben, dass wenn ich und meine Freunde etwas normal finden, "man" es auch normal findet. Aber kleine Bewegungen können auch der Beginn von etwas Großem werden.

STANDARD: Warum gefährden Klimawandel, Digitalisierung und Hyperkonsum unsere Demokratie?

Blom: Viele Studien gehen davon aus, dass in 20, 30 Jahren die Hälfte aller Jobs gefährdet ist, von Computern übernommen zu werden. Wir haben dann eine sehr hohe Arbeitslosigkeit und vermehrt Menschen, die von ihrem Job nicht mehr leben können. Wenn es für 30 Prozent keine Jobs mehr gibt, sagt ihnen die Gesellschaft, dass man ihre Ideen und Gedanken nicht braucht. Man erklärt diese Menschen für überflüssig. Der Staat gibt ihnen Geld, und das stecken sie in den Konsum. Wird immer mehr Arbeit von intelligenten Maschinen gemacht, wird sich auch die Macht über Informationsflüsse und Daten in immer weniger Händen finden. Beide Punkte sind eine Gefahr für die Demokratie. So endet Demokratie. Die heutigen Zuckerbergs und Musks werden dann wohl wie Waisenknaben aussehen gegen die nächste Generation der Tech-Entrepreneurs. Auf der anderen Seite haben wir eine Masse von ignorierten Menschen, die nicht mal mehr streiken können, weil sie keine Arbeit mehr haben.

STANDARD: Technischen Fortschritt und die Angst davor gab es in der Geschichte immer. Das hat uns auch Vorteile gebracht – etwa die Möglichkeit zu reisen. Kann es nicht sein, dass wir uns vor der Digitalisierung zu sehr fürchten?

Blom: Das mit der technologischen Entwicklung ist richtig, es hat aber immer jemand dafür bezahlt. Reisen war in der historischen Entwicklung immer kolonialistisch. Die Dampfmaschine hat das industrielle Proletariat geschaffen. Es wurden Jobs vernichtet, aber auch neue geschaffen. Keine sehr guten Jobs übrigens. Das Revolutionäre diesmal ist, dass diese Systeme anfangen zu lernen. Sie schreiben die Regeln selbst, wenn das Ziel definiert ist. Damit werden viele Jobs überflüssig. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass Gesellschaften freiwillig sagen, wir werfen unser Handys weg und schalten unsere Computer aus, weil wir auf menschliche Arbeit setzen wollen.

STANDARD: Gerade die Handys und der permanente Zugang zu sozialen Netzwerken, wo viele in ihren Echokammern bleiben, sind für Sie demokratiepolitisch auch bedenklich.

Blom: Man darf nicht glauben, dass wir Technologien nur benutzen. Sie benutzen uns auch. Ohne den öffentlichen Raum, den der Buchdruck geschaffen hat, wäre Demokratie nicht möglich gewesen. Die heutige Vernetzung schafft auch gigantischen psychischen Druck, Stichwort Cybermobbing. Twitter, Facebook und Co schlagen ihre Krallen in unser Eidechsenhirn. Dabei vergessen wir, dass das nicht nur Bildschirme sind, auf die wir starren, sondern auch Filter. Diese bunte, pausenlose, emotionalisierte, aber auch stark simplifizierte Parallelwelt hat eine andere Qualität als wie es war, vor 50 Jahren eine Zeitung zu lesen. Das verändert unser Selbstbild, unsere Gefühle, die Art, wie wir miteinander umgehen. Das müssen wir verstehen.

STANDARD: Die Demokratie braucht zum Überleben auch eine gemeinsame Hoffnung. Wir hoffen doch alle, dass es keinen Krieg geben wird, die Zeiten nicht schlechter werden. Reicht das nicht?

Blom: Hoffnung als Negativum reicht nicht. Dass kein Krieg kommt, dass es morgen nicht regnet, dass mein Kind nicht vor den Bus läuft – ist das die beste Hoffnung, die Sie haben wollen? Die Vermeidung des größten Unglücks ist keine Hoffnung, auf der man sein Leben aufbauen kann. Die Hoffnung von Vorgängergenerationen war ganz anders. Sie hofften, dass die Fortschritte in Wissenschaft und Medizin die Welt verbessern und Armut abschaffen werden. Das hat sich zwar als unsinnig herausgestellt, aber es hat diese Gesellschaften getragen. Die gegenwärtige Situation gibt keinen Anlass zur Hoffnung. Mehr Konsum, mehr Ressourcenverbrauch ist nicht möglich. So wie es jetzt ist, kann es nicht besser werden.

STANDARD: Sie wollen daher den Jungen die Macht geben, weil sie heutige Entscheidungen ausbaden werden müssen. Sebastian Kurz wird mit 31 Jahren wohl jüngster Kanzler. Der richtige Weg?

Blom: Herr Kurz ist nicht nur altersmäßig außerhalb der Gruppe, die ich meine. Ich fände es großartig, wenn sich junge Leute (16 bis 30 Jahre) in ganz Europa zusammentun würden und eine freie Wahl unter sich machen und Leute nach Brüssel schicken, die verlangen, dass sie eine zweite Kammer im EU-Parlament werden, mit Vetorechten. Weil wie gesagt: Die werden das alles ausbaden müssen. Wenn alles noch 30 Jahre gut läuft, werden wir die sein, die es am besten gehabt haben. Wenn man heute 18 Jahre alt ist, ist die Aussicht auf 30 gute Jahre nicht so attraktiv.

STANDARD: Sie geben zu, oft selbst mit den Szenarien zu hadern, die Sie aufstellen. Was hilft Ihnen dann?

Blom: Begegnungen mit analogen Menschen freuen mich. Das Leben macht mir Spaß. Aber ich sehe strukturell für unsere Zukunft – wenn wir uns nicht rasch und enorm ändern – nicht so viel Gutes. Wir können nicht abwarten, bis die Gesellschaft aufwacht und die Morgenröte einer neuen Zivilisation heranbricht. Allen Zweiflern, die sagen: "Das wird schon wieder", sei gesagt: Die Erde wird sich letztlich selbst regulieren. Aber sie braucht einen Organismus ganz besonders wenig – und das sind wir. (Bettina Pfluger, Portfolio, 28.12.2017)

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Warum Grenzen uns nicht retten

13.5.2019

Deutschlandfunk Kultur - 13.05.2019 - Politisches Feuilleton

Wie sinnvoll sind Grenzen in einer „verflüssigten“ Welt? Sich einfach den Blick zu verbauen, helfe auf keinen Fall, meint Philipp Blom.

Mauer bauen, Stacheldraht ausrollen: Mit Abschottung lassen sich Klimawandel oder Massenflucht von Menschen nicht verhindern, warnt der Historiker Philipp Blom. Sein Vorschlag: Abschied vom „toxischen Wirtschaftswachstum“.

Die Idee der Grenze ist wieder da. Überall entstehen Barrieren, die reiche Welt schottet sich ab gegen den Rest, mit Stacheldraht und Betonmauern, mit Drohnen und Militär und gelegentlich mit tödlicher Gewalt. Was ist passiert?

Die Welt hat sich verflüssigt. Was gestern noch solide schien, ist längst in Bewegung geraten und was gestern noch unvorstellbar weit weg war, kommt heute direkt zu uns. Die Klimakatastrophe, die sich immer deutlicher manifestiert, erfasst alle Kontinente. Finanz- und Warenströme sind längst global und unentwirrbar verzahnt; religiöse und rassistische Terroristen inspirieren einander übers Internet vom Irak über die USA bis nach Neuseeland.

Immer mehr Menschen sind gezwungen, aus ihrer Heimat zu fliehen oder wandern auf der Suche nach einem besseren Leben aus. Massentourismus und globalisierte Produktionsketten fressen sich tiefer ein in natürliche und soziale Zusammenhänge weltweit. Wenn ich ein T-Shirt kaufe war die letzte Person, die es vor mir berührt hat, vielleicht ein Kind in Bangladesch.

Die Welt scheint nirgends mehr solide zu sein


„Flüssige Moderne“ nannte der polnisch-britische Soziologe Zygmunt Bauman dieses Phänomen schon vor 20 Jahren. Eine soziale Revolution hat von der Gleichstellung der Frauen bis zu den Rechten von Minderheiten ganz neue gesellschaftliche Regeln und Gesetze geschaffen.

Was gestern noch als anständig galt, ist heute spießig, was als natürlich angesehen wurde, ein instabiles Konstrukt. Nirgends scheint die Welt mehr solide zu sein. Nach 50 Jahren einer immensen wirtschaftlichen Entwicklung, die von fossilen Brennstoffen befeuert wurde, beginnen die Nebenwirkungen unseres Wohlstands uns zu überwältigen.

Dunkle Seiten des Fortschritts wurden früher exportiert


Noch vor wenigen Jahrzehnten konnten westliche Länder die dunkle Seite des Fortschritts exportieren — aus den Augen aus dem Sinn. Die Kriege, die der Westen um Rohstoffe und regionale Macht führte, fanden weder in Europa statt, noch in den USA. Ihre billigen Produkte ließen westliche Konzerne da herstellen, wo Arbeit nicht nur günstiger sondern auch weniger geschützt war. Beide Welten waren schon allein durch die Entfernungen voneinander weitgehend getrennt.

Jetzt aber ist Reisen billig geworden, Smartphones bringen das Internet in die entlegensten Winkel der Welt und eine globale Bewegung setzt ein. Jetzt macht die globale Erwärmung deutlich, dass es für Europa überlebenswichtig ist, wie in China, Afrika und auf der Antarktis gewirtschaftet wird, ob in Syrien Krieg herrscht, wieviel Regenwald pro Tag verschwindet, wie viele niemals beschriebene Arten.

Gegen Kontrollverlust helfen keine Mauern


So viel Vernetzung und fließende Unsicherheit bedeutet Kontrollverlust. Also werden Mauern gebaut und Stacheldraht wird ausgerollt, um die Bedrohung draußen zu halten. Auf sicherem Abstand. Um innen wieder zurückzufinden zu den ewigen Werten des einen Volkes und des Vaterlandes. Etwas, wohinter man sich verstecken kann.

Es ist die schiere Angst, die sich hinter Mauern verstecken will. Aber es gibt kein Zurück aus der globalisierten Welt, die wir gebaut haben, die mächtigen Ströme der Gegenwart lassen sich nicht eindämmen und es hilft auch nicht, sich einfach den Blick zu verbauen.

Nur radikale Veränderungen ermöglichen Hoffnung


Die Angst, allerdings, ist ganz realistisch. In einer Welt der steigenden Temperaturen und Ozeane und der kollabierenden Ökosysteme, in der immer mehr Menschen zur Flucht gezwungen werden, gibt es auch für den reichen Westen keine Zukunft, die so etwas wie Zuversicht rechtfertigt. Dabei bleibt keine Zeit für Hoffnungslosigkeit.

Nur radikale Veränderungen werden es ermöglichen, sich in der flüssigen Welt zu orientieren. Vielleicht ist es dem Junkie Homo sapiens doch noch möglich, seine Kohlendioxid-Sucht loszuwerden, nicht mehr an der Nadel eines toxischen Wirtschaftswachstums zu hängen. Dann wäre es möglich, wieder einen realistischen Grund zur Hoffnung auf eine gute Zukunft zu sehen. Dann brauchen wir auch keine Mauern mehr.

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Klimawandel: Schon zur Kleinen Eiszeit gab es Fake News

14.1.2022

BR24 - 14.01.2022 - Johannes Berthold / Marisa Gierlinger

Zu Beginn der Neuzeit wurden in Europa "Hexen" verbrannt, weil man sie für schlechtes Wetter verantwortlich machte. Tatsächliche Ursache war die Kleine Eiszeit: Ein Klimawandel in Europa, aus dem wir viel für heute lernen können.

Der Klimawandel bedroht unsere Lebensgrundlagen. Eine globale Erwärmung um zwei Grad - das wäre die ganz große Katastrophe, sagen Forscher.

Eine Änderung des Klimas hatte schon einmal katastrophale Folgen für die Menschen in Europa: Am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit bricht die Kleine Eiszeit über den Kontinent herein. Es wird zwei Grad kälter. Harte Winter und Missernten häufen sich.

Pastor Daniel Schaller aus Stendal notiert im Jahr 1595: "Das Feld und Acker ist des Fruchttragens auch müde geworden und gar ausgemergelt / wie darüber groß Winselns und Wehklagens / unter den Ackersleuten in Städten und Dörfern gehöret wird / und dannenher die große Teuerung und Hungersnot sich verursachet […]."

Die Suche nach Sündenböcken


Die Menschen damals sind gläubig. Sie suchen Antworten in der Bibel, beten, erhoffen sich Hilfe von Gott. Aber vergeblich. Das schlechte Wetter bleibt.

Je länger das Klima verrückt spielt, desto mehr Menschen interessieren sich für Magisches und Okkultes. Immer öfter macht man vermeintlich vom Teufel Besessene für Wetterkatastrophen verantwortlich.

Ein starker Hagel, eine verregnete Ernte – das reicht oft schon als Beweis, dass die Nachbarin mit dem Teufel im Bunde ist. Man legt den Beschuldigten Daumenschrauben an, spannt sie auf die Streckbank. So lange, bis sie alles zugeben: vom verhexten Wetter bis zur Unzucht mit dem Teufel. Hinterher werden die angeblichen Hexen geköpft, ertränkt oder verbrannt. Wissenschaftler stoßen in alten Dokumenten immer wieder auf Belege für solche Ereignisse.

Der Klimawandel führt zu Revolutionen


Klimafolgenforscher gehen davon aus, dass die Kleine Eiszeit mit ihren Wetterextremen nicht nur unschuldigen Sündenböcken das Leben gekostet hat. Die zwei Grad weniger haben demnach Gesellschaften in Europa umgewälzt, sie haben zu Revolutionen geführt, Herrschaft und unsere Art zu wirtschaften verändert. Unsere moderne Welt sei so durch diesen vergangenen Klimawandel geformt.

Aus der Kleinen Eiszeit lernen


Heute wird es wärmer und nicht kälter wie vor mehreren hundert Jahren. Die Konsequenzen für viele Menschen könnten aber ähnlich gravierend sein. Wieder drohen Missernten und Hungersnöte. Und auch heute reagieren manche Menschen irrational. Sie suchen einfache Erklärungen für komplexe, schwer zu begreifende Veränderungen.

Der Autor Philipp Blom hat ein Buch ("Die Welt aus den Angeln") über die Kleine Eiszeit geschrieben. "Ich glaube, da kann man durchaus auch eine historische Parallele mit heute ziehen."

Was im 17. Jahrhundert die Magier und Mystiker waren, die Hexenverbrennungen, das sind für ihn heute Verschwörungstheorien: "Verschwörungstheorien in den Sozialen Medien, die uns andere Lösungen anbieten für das, was gerade passiert. Und sagen: Es gibt keinen Klimawandel, oder: Bill Gates hat den Klimawandel erfunden."

Damals wie heute gilt: Irrationale Erklärungen helfen ebenso wenig mit Krisen umzugehen wie es hilft, die Veränderungen einfach zu ignorieren. Das können wir aus der Kleinen Eiszeit lernen. Und das gilt ganz grundsätzlich. Nicht nur für den Klimawandel, sondern zum Beispiel auch für den Umgang mit Covid-19.

Die Kleine Eiszeit hielt bis ins 19. Jahrhundert an. Die Menschen fanden Wege, sich anzupassen. Möglich war das nur, weil sich die empirische Wissenschaft irgendwann durchsetze. Sie löste das starre Weltbild der Religion ab und fand immer wieder Antworten auf eine sich verändernde Welt.

Verhaltensweisen in Frage stellen


Auch heute, im Angesicht des menschengemachten Klimawandels, müssen wir alte Verhaltensweisen in Frage stellen. Für Philipp Blom bedeutet das, "dass die Antworten, die wir noch am Ende des 20. Jahrhunderts für fast alle Krisen hatten – Wirtschaftswachstum, Liberalisierung etc. – dass die hier keine Antworten mehr bieten."

Im radioFeature"Als es zwei Grad kälter wurde - Was die Kleine Eiszeit über den Klimawandel heute verrät"von Marisa Gierlinger erfahren Sie noch mehr über die katastrophalen Auswirkungen des vergangenen Klimawandels und mögliche Lehren für heute.

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"Wir wollen eigentlich keine Zukunft"

24.7.2017

Deutschlandfunk | Peter Kapern

Massiver Jobverlust durch Digitalisierung, Migrationsbewegungen infolge des Klimawandels - vor diesen historischen Herausforderungen stehe unsere Gesellschaft, sagte der Historiker Philip Blom im Dlf. Wir müssten jetzt "die Initiative ergreifen", anstelle diese Veränderungen "nur zu erleiden".

Peter Kapern: Es ist ja durchaus ein Aufatmen zu spüren: Die rechtsextreme Marine Le Pen ist nicht in den Élysée-Palast eingezogen, in Holland regiert Geert Wilders nicht mit, die AfD ist im Sinkflug, und selbst Donald Trump hat es im ersten halben Jahr im Weißen Haus nicht geschafft, die Welt zu ruinieren. Vor sechs Monaten noch wurde die bange Frage gestellt, ob das Konzept der liberalen, pluralistischen Demokratie gescheitert ist, weil ihm die Unterstützer von der Fahne gehen. Mittlerweile sieht es nicht mehr gar so düster aus, aber ist die Krise der liberalen Demokratie damit wirklich überwunden? Keinesfalls, wenn man dem Historiker Philipp Blom glaubt. Guten Morgen, Herr Blom!

Philipp Blom: Guten Morgen, Herr Kapern!

"Veränderung bedeutet für uns Verschlechterung"

Kapern: Herr Blom, ich versuche mal, eine These Ihres neues Buchs, das ab heute erhältlich ist, auf den Punkt zu bringen: Die Menschen stehen wegen der Digitalisierung und des Klimawandels unter einem gigantischen Veränderungsdruck, gleichzeitig haben sie nach der Finanzkrise von 2008 die Hoffnung verloren, dass sie noch einen fairen Anteil vom Wohlstand abbekommen, und deshalb hegen sie eine Sehnsucht nach autoritärer Führung, rückwärtsgewandter Politik. Passt das so ungefähr?

Blom: So ungefähr passt das, ja. Ich glaube, was ich der These vielleicht noch zufügen möchte: Unsere Gesellschaften, wir wissen im Prinzip, dass Veränderung für uns Verschlechterung bedeuten wird, und deswegen wollen wir eigentlich keine Zukunft, wir wollen nur, dass die Gegenwart nicht aufhört, und ich glaube, das ist eine ziemlich problematische Haltung.

Kapern: Warum?

Blom: Na ja, weil eine Gesellschaft, die keine Zukunft mehr hat, die keine Hoffnung mehr hat darauf, etwas Besseres konstruieren zu können, der geht so ein bisschen die Puste aus.

"Wir haben noch eine dicke Fettschicht"

Kapern: Sie sprechen von einem Schnellzug nach Weimar – so heißt sogar eines der Kapitel in Ihrem Buch. Weimar, das steht ja für den Triumph der Rassisten, Nationalisten und der Autoritären, weil der Demokratie die Unterstützer abhanden kommen, und Sie schreiben sogar von einem globalen Weimar. Stehen wir in der Tat da am Eingangstor zu einem neuen Weimar?

Blom: Na ja, erst mal auch, wenn man am Eingangstor zu irgendwas steht, kann man immer noch rechts oder links abbiegen, aber ich glaube schon … Ich werde oft gefragt, sind wir wieder in einer Zeit der Weimarer Republik mit öffentlicher Unruhe und Misstrauen in die Demokratie, und nein, das glaube ich nicht. Ich glaube, wir haben noch zu robuste Zivilgesellschaften, zu starke Institutionen, und wir sind auch einfach noch zu reich. Wir haben sozusagen noch eine dicke Fettschicht zwischen uns und revolutionärem Verhalten, aber gleichzeitig leben wir in einer Zeit mit völlig deregulierten Finanzmärkten, in denen die nächste Krise eigentlich nur eine Frage der Zeit ist, und wenn das kommt, wenn unsere Länder, unsere Gesellschaften nicht mehr reich genug sind, diese Probleme abzufedern, dann kann tatsächlich, glaube ich, alles passieren.

"Ihr seid gar keine Bürger, ihr seid Konsumenten"

Kapern: Das globale Weimar lässt sich also nur verhindern, wenn die Digitalisierung – damit greife ich noch mal die erste These auf – mit ihren gigantischen Arbeitsplatzverlusten und der Klimawandel, der enorme Migrationsbewegungen verursacht, bewältigt werden. In Ihrem Buch zeigen Sie sich nun extrem skeptisch, dass das den liberalen Demokratien auch tatsächlich gelingen kann. Warum?

Blom: Na ja, ich glaube, diese Skepsis kommt ganz einfach daher: Wir haben Menschen über 30 Jahre oder mehr erzählt, ihr seid gar keine Bürger, ihr seid eigentlich Konsumenten, eure patriotische Pflicht ist, so viel Zeug zu kaufen wie möglich und das zu verbrauchen, denn dann boomt die Wirtschaft, und nur wenn die Wirtschaft boomt, dann wird alles gut, und diese Tatsache, dass wir uns als Gesellschaften so in eine Wachstumsökonomie, in eine Wachstumswirtschaft eingeschlossen haben, das ist, glaube ich, sehr problematisch, denn dieses Wachstum, das werden wir nicht endlos durchhalten können. Uns gehen die Rohstoffe aus oder sie werden zu teuer und zu dreckig, und wir müssen uns tatsächlich Alternativen überlegen, und diese Alternativen gibt es, nur, wir müssen sie ergreifen, und ich glaube, es ist ganz wichtig zu begreifen, wenn man Digitalisierung sieht, die vielen Menschen die Jobs kosten wird, und wenn man den Klimawandel ansieht, das sind Veränderungen, die passieren. Die fragen auch nicht danach, ob wir das gut finden. Die finden bereits statt. Wir aber haben jetzt noch die Möglichkeit, diese Veränderungen in einer gewissen Weise zu gestalten und nicht nur zu erleiden, aber dann müssen wir auch jetzt diese Initiative ergreifen und nicht warten, bis diese Sachen so drastisch werden, dass wir eigentlich nicht mehr sinnvoll auf sie reagieren können.

Kapern: Aber noch mal nachgefragt, Herr Blom: Warum sind Sie so skeptisch, dass das ausgerechnet den Modellen einer liberalen Demokratie gelingt, diesen Kurswechsel herbeizuführen und den Leuten wieder Hoffnung zu geben, und zwar einem Wandel beizusteuern?

Blom: Weil wir diesen Wandel in unseren Gesellschaften im Moment noch nicht sehen und weil wir auch, glaube ich, das Gespräch in weiten Gesellschaftsschichten noch gar nicht sehen. Wissen Sie, ich gebe eine Menge Vorträge und ich fahre zu Festivals und zu Konferenzen und so, und dort sieht man immer dieselben netten, liberalen, gebildeten Menschen, die sich Sorgen machen über so etwas, aber unsere Gesellschaften als Ganzes, die sind mit ganz anderen Themen beschäftigt, und wir müssen diese Diskussion ausweiten über die wenigen hinaus, und wir müssen tatsächlich auch Bewusstsein schaffen, dass diese Veränderungen passieren und dass es eine historische Herausforderung ist. Wir sind, ob wir es wollen oder nicht, eine Generation, deren Entscheidungen auf viele Generationen hinaus wirken werden.

"Diktatur ist nicht die Antwort"

Kapern: Sind denn Ihrer Meinung nach autoritäre Gesellschaftsmodelle besser geeignet, diesen Herausforderungen gewachsen zu sein?

Blom: Das sind sie historisch weder moralisch noch, sagen wir: wirtschaftlich oder tatsächlich. Ich meine, das sehen wir jetzt mit Donald Trump wieder, autoritäre Züge reinkommen und die eigentlich alle sehr zerstörerisch sind. Nein, also jeder Diktator hat einen dummen Sohn und eine törichte Tochter und einen ehrgeizigen Berater. Diktatur ist nicht die Antwort. Autoritarismus ist nicht die Antwort. Wir müssen das schon in demokratischen Zusammenhängen schaffen, und wir müssen vielleicht auch die Demokratie neu definieren, denn es ist, glaube ich, deutlich, dass in Zeiten, wo immer mehr Macht, immer mehr Daten, immer mehr Information und so weiter in immer weniger Hände konzentriert werden durch die Digitalisierung, wo unsere Information völlig verändert wurde durch soziale Netzwerke, dass da auch sich unsere Strukturen anpassen müssen. Die Strukturen, die sich Gesellschaften geben, haben immer schon sehr viel zu tun gehabt mit den Technologien, die diese Gesellschaften nutzen. Denken wir nur an den Buchdruck und was der verändert hat, und ich glaube, so eine Veränderung steht wieder an.

"Wer ist wichtig für eine Gesellschaft?"

Kapern: Jetzt machen Sie uns doch mal ein wenig den Mund wässrig: Wie würden diese modernen, diese neuen Strukturen aussehen können, die den Herausforderungen durch Digitalisierung und Klimawandel gewachsen sind?

Blom: Na ja, erst mal kommt dann die große Debatte. Entschuldigung, ich habe irgendwas in der Kehle. Erst mal kommt dann die große Debatte zum Beispiel um ein unbedingtes Grundeinkommen. Die Digitalisierung wird vielen Menschen die Jobs kosten und zwar nicht nur Taxifahrern und Lastwagenfahrern, sondern auch den Steuerberatern, Anwälten und Chirurgen. Also das geht quer durch die Gesellschaft, und dann muss man natürlich fragen, wenn Menschen keine Erwerbsarbeit mehr haben, erstens, wovon leben sie, das heißt, brauchen sie ein Grundeinkommen. Seltsamerweise sowohl Ökonomen von rechts als auch von links sagen ja, und zweitens, und das ist vielleicht noch die interessantere Frage, wie definieren wir uns eigentlich, wenn wir uns nicht mehr über unsere Arbeit definieren. Was macht jemanden wertvoll für eine Gesellschaft, wer ist wichtig für eine Gesellschaft, und wie bestimmen wir das. Das sind Fragen, die auch zu uns kommen werden, und ja, da ist auch ein echtes utopisches Potenzial drin.

Man kann sagen, noch Abraham Lincoln hat geglaubt, dass Erwerbsarbeit eigentlich eine Form von Sklaverei ist, die man aufhören müsste, und wenn wir tatsächlich aus dieser Sklaverei wegkommen und sozusagen ganz neu Kontrolle über unser Leben ausüben können, arbeiten können, was wir wollen und wie viel wir wollen, das klingt nach einer schönen Utopie, aber es hat natürlich riesige Probleme. Erst mal müssen wir noch viele Menschen davon überzeugen, die sagen, wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen, aber darauf ist die Antwort: Wenn aber jemand nicht mehr arbeiten kann, soll er dann auch nicht essen.

Aber zum Zweiten sind einfach auch sozusagen Systemprobleme zu lösen. Wir wissen noch nicht, wie das geht, wir wissen noch nicht, welches Modell das Beste ist, und ich glaube, wir werden ganz viel ausprobieren müssen, einfach weil Veränderungen passieren. Diese Veränderungen sind enorm, und sie finden statt. Stellen Sie sich den Klimawandel vor. Als ich dieses Buch schrieb im Februar, war es am Nordpol so warm wie in Berlin, und das wird nicht nur Millionen von Migranten schaffen, es wird auch ganze Gesellschaften zerstören. Es wird unsere Rohstoffzufuhr und unsere Wirtschaftsverbindungen verändern, und wir müssen uns darüber Gedanken machen, während all das noch nicht passiert ist und nicht erst im Nachhinein.

Kapern: "Was auf dem Spiel steht", so heißt das neue Buch des Historikers Philipp Blom. Erschienen ist es im Hanser Verlag. Herr Blom, ich danke Ihnen für das Gespräch und wünsche Ihnen einen schönen Tag!

Blom: Danke Ihnen und guten Morgen nach Nordrhein-Westfalen!

Kapern: Danke sehr!

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http://www.deutschlandfunk.de/krise-der-demokratie-wir-wollen-eigentlich-keine-zukunft.694.de.html?dram:article_id=391832

Kunst des kleinsten Unterschieds: Klaviermusik im Wiener Konzerthaus

16.9.2022

Der Standard Spezial - 16.09.2022 - Daniel Ender

Junge Tastenvirtuosinnen wie Beatrice Rana oder Jan Lisiecki pflegen den perfekten Anschlag

Den Unterschied möchte ich Klavier spielen können!" Vor nicht allzu langer Zeit war dieser Ausspruch – man sagt, gerade in Wien – in aller Munde. Dabei war es wohl der Berliner expressionistische Dichter Alfred Liechtenstein, der ihn zum ersten Mal verwendete, um mit dem grotesken Vergleich einen extremen Gegensatz zu verdeutlichen.

Ein Kind, das sich gerade erst mit dem Instrument vertraut machte, meinte hingegen einmal: "Warum heißt das, der Unterschied ist groß? Man muss doch am Klavier auch ganz kleine Unterschiede spielen können!" Diese Beobachtung lässt sich anhand eines der großen Meisterwerke des späten 20. Jahrhunderts vertiefen, Helmut Lachenmanns etwa halbstündiger Serynade – einer geradezu nuancenbesessenen Studie über den verklingenden Klavierklang mit einer wahren Unzahl von Schattierungen.

Anton Gerzenberg wird dieses Stück zum Auftakt des Zyklus "Great Talent" im Berio-Saal interpretieren (10. 10.). Zuvor spricht der Hamburger, Jahrgang 1996, mit dem Autor und Historiker Philipp Blom über das Thema "Interpretation – einem Geheimnis auf der Spur.

Solo-Orchester-Begegnungen


Wie verschieden interpretatorische Ansätze auf dem Klavier sein können, weiß jede Konzertbesucherin aus eigener Hörerfahrung. Der Herbst im Wiener Konzerthaus ermöglicht durch seine ausgesprochene Vielfalt eine Reihe direkter Vergleiche von Künstler(innen)persönlichkeiten. Als Auftakt zum Zyklus "Meisterwerke" gastieren Martha Argerich und Zubin Metha am Pult der Wiener Philharmoniker für Bruckners 4. Symphonie und Schumanns Klavierkonzert (21. 9.).

Weitere Solo-Orchester-Begegnungen gibt es im Oktober in dichter Folge: So kommt die Camerata Salzburg unter Leitung ihres Konzertmeisters Gregory Ahss mit Musik von Gluck und Méhul – sowie mit Beethovens 4. Klavierkonzert und dem Solisten Jan Lisiecki (10. und 11. 10.).

Der Kanadier, Jahrgang 1995, ist Absolvent der Glenn Gould School, bereits mehrfach preisgekrönt und hat (mit der Academy of St Martin in the Fields) alle Beethoven-Konzerte aufgenommen. Das vierte von ihnen schätzt er ganz besonders, weil es "so kühn, forschend und innovativ ist. Ich mag es, wenn, wie hier, zum ersten Mal Grenzen überschritten werden."

Die weiteren Interpreten am Klavier im Konzerthaus-Herbst sind mehrfache Wettbewerbsgewinner und gehören zu den Jungen, mit Ausnahme des erfahrenen, wegen der ihm eigenen Verbindung von Virtuosität und Tiefgang unter Kennern sehr geschätzten, beim großen Publikum aber gar nicht so bekannten Sergei Babayan, Jahrgang 1961. Er wird mit den Wiener Symphonikern unter Leitung von Dima Slobodeniouk – vor der 1. Symphonie von Tschaikowsky – das 2. Klavierkonzert von Sergej Prokofjew spielen (21. 10., 19.30 Uhr und 23. 10., 11 Uhr).

Extreme des Klangs


Unmittelbar nach ihm gastiert der Shootingstar Bruce Liu, Jahrgang 1997, Gewinner des Warschauer Chopin-Wettbewerbs 2021, mit Sergej Rachmaninows halsbrecherischer Paganini-Rhapsodie gemeinsam mit dem Orchestre symphonique de Montréal und Dirigent Rafael Payare (23._10., 19.30 Uhr). Außerdem auf dem Programm: die Scorpius-Ouvertüre von R. Murray Schafer sowie Schostakowitschs 10. Symphonie: das aufwühlende Porträt des Diktators Josef Stalin.

Und bereits Anfang Oktober lädt Beatrice Rana, Jahrgang 1993, zu einem Solorecital in den Mozart-Saal. Im Vorjahr lobte sie die Süddeutsche Zeitung für eine "stupende Technik, die bei Ökonomie der Bewegung und einer fast unbeteiligten Mimik einen Klangrausch nach dem anderen produziert". Nun widmet sich Rana mit Ludwig van Beethovens Hammerklaviersonate und Frederic Chopins b-Moll-Sonate zwei absoluten Meilensteinen der Klavierliteratur. Ihre "Fähigkeit, an die Extreme des Klangs zu rühren", wird beiden äußerst anspruchsvollen Stücken dabei sicher zugutekommen (5. 10.).


DerStandard Online Beitrag

Romy für "Der taumelnde Kontinent"

14.5.2015

Der Film „Der taumelnde Kontinent“ ist am 23.04.2015 mit der Romy für die "beste TV-Dokumentation" ausgezeichnet worden!

„Was auf dem Spiel steht” auf Spanisch

7.6.2021

Catalan Television - 07.06.2021 - Philipp Blom

Philipp Bloms „Was auf dem Spiel steht” wird in diesem Monat auf Spanisch veröffentlicht. Er war Gast beim Catalan Fernsehen.

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Als es zwei Grad kälter wurde - Was die Kleine Eiszeit über den Klimawandel heute verrät

15.1.2022

BR Radiofeature - 15.01.2022 - Marisa Gierlinger

Der Klimawandel bedroht heute unsere Lebensgrundlagen. Im ausgehenden Mittelalter änderte sich das Klima schon mal radikal: Die Kleine Eiszeit brachte harte Winter, Missernten, Umbrüche, Revolutionen. Können wir daraus lernen?

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Neues Buch

3.8.2014

1918 ist der Krieg zu Ende, aber die Welt findet keinen Frieden. Alle Gewissheiten sind ins Wanken geraten, und so geht der Kampf weiter: zwischen Linken und Rechten, Konservativen und Modernisten, Arbeitern und Unternehmern. Nach seinem Bestseller "Der taumelnde Kontinent" über Europas Jahre vor dem 1. Weltkrieg führt Philipp Blom die Geschichte nun weiter bis ins Jahr 1938 und erweitert den Horizont bis in die USA. Der Jazz verbreitet ein neues Freiheitsgefühl, gleichzeitig gerät die Demokratie unter Druck. Zeitung und Radio erleben ihre besten Jahre, trotzdem brennen in Berlin die Bücher. "Die zerrissenen Jahre" macht auf einmalige Weise jene Zeit anschaulich, die in den 2. Weltkrieg führte.
Philipp Blom

Die zerrissenen Jahre
1918-1938
Erscheinungsdatum: 25.08.2014
Fester Einband, 576 Seiten
Mit s/w-Abbildungen, farbigem Bildteil
ISBN 978-3-446-24617-1
Hanser Verlag
Preis: 27,90 € (D) / UVP 37,90 sFR (CH) / 28,70 € (A)

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Der Klimawandel macht nie Pause

21.4.2021

4Gamechangers - 27.04.2021 - Corinna Milborn

VON DER VERSCHIEBUNG DER PRIORITÄTEN UND NEUEN CHANCEN

“Wir leben in einer gigantischen Veränderung. Und die Frage ist: Wollen wir diese Veränderung erleiden oder aktiv gestalten?” - Philipp Blom, 4GCs Studio Ist der Kapitalismus der Feind des Klimas? Traditionelle Wirtschaftsmodelle ignorieren das Wohlergehen und lassen die Zukunft außer Acht. Aber was bedeutet Wert auf einem begrenzten Planeten wirklich? Einige Klimaaktivisten sind der Meinung, dass wir den Kapitalismus beenden müssen, um bis 2050 einen neutralen Kohlenstoffausstoß zu erreichen. Auf der anderen Seite steht die Fehlinformation - die viele Wähler glauben - dass der vom Menschen verursachte Klimawandel nicht "real" ist: Das bedeutet, dass wirtschaftsfreundliche Politiker einen demokratischen Anreiz haben, die Klimarealität zu ignorieren.

Speaker:

Felix Finkbeiner - Plant-for-the-Planet Foundation
Johannes Gutmann - Founder Sonnentor
Philipp Blom - Autor
Michaela Krömer - Rechtsanwältin & Klimakrisen-Prozessanwältin
Monika Langthaler - Director The Schwarzenegger Climate Initiative

Host: Corinna Milborn - PULS 4

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Philipp Blom im Konzerthaus im neuen Zyklus «Faszination Kammermusik»

3.4.2018

Im neuen Zyklus «Faszination Kammermusik» bringen das Artemis Quartett, Meta4 und Hilary Hahn jeweils ein bedeutendes Werk des Genres zur Aufführung und erkunden ihre interpretatorischen Entscheidungen im Dialog mit Philipp Blom. Im zweiten Teil erklingt das Werk zur Gänze – das letzte Wort hat die Musik.
05.12.2018 Blom/Meissl/Meta4
22.05.2019 Blom/Artemis Quartett
12.06.2019 Blom/Meissl/Hilary Hahn
» mehr: https://konzerthaus.at

Schafft die Museen ab!

7.1.2008

Wir verehren das Alte, nur weil es alt ist. Warum tun wir das? Weil wir ein perverses Verhältnis zur Vergangenheit haben

Hier waren sie also, der Stolz des Château de Fontainebleau, die berühmten Petits Appartements des Kaisers Napoleon, noch heute im Originalzustand erhalten. Die Stimme der Fremdenführerin bebte, als sie uns berichtete, die Einrichtung sei noch genau so, wie Bonaparte sie verlassen habe.

Der ehemalige Besitzer allerdings hätte diese Räume wohl kaum wiedererkannt: Die Tapeten waren verblichen, die seidenen Gardinen, die einmal im satten Rot geleuchtet hatten, waren resigniert ins Beige ermattet und an mehreren Stellen eingerissen unter dem eigenen Gewicht. Die Stühle hätten auch den kleinsten Korsen kaum noch ausgehalten, und wehe dem, der auf den Tischen versucht hätte, Pläne auszubreiten! Die Teilnehmer der Schlossführung störte all das nicht. Hier, auf diesem Stuhl hatte Napoleon gesessen, auf dieser Toilette hatte er (wahrscheinlich noch immer so laut diktierend, dass der Sekretär im Nebenzimmer ihn hören konnte) seine Notdurft verrichtet. Wahnsinn! Die Toilette, eine technische Neuerung in jener Zeit, löste betretenes Kichern aus. Ein Herr aus Kansas ließ sich den Mechanismus erläutern.

Mich selbst faszinierten die Vorhänge, oder eigentlich der Anspruch, den sie stellten. Dies waren unzweifelhaft Napoleons Gardinen, aber gleichzeitig wäre der effiziente Feldherr der Erste gewesen, der diese alten Fetzen ins Feuer geworfen hätte. Er hatte einen starken Sinn fürs Symbolische und hätte keinen Moment daran gedacht, sich mit dem verblichenen Glanz eines vergangenen Jahrhunderts zu umgeben. Er wollte neuen, eigenen Glanz. Heute aber erstarren wir vor Ehrfurcht vor einem zerfaserten Stück Stoff, das zu viel Sonne abbekommen hat. Der Hauch der Vergänglichkeit, der uns aus seinen Rissen anweht, mag in unserer sonst so effizient zu Tode restaurierten Welt eine Ausnahme sein, aber die Überzeugung, dass diese Gardinen bewahrenswert sind, ist allgemein verbreitet. Schlimmer noch: Ich teile sie.

Wir sind die erste Kultur der Weltgeschichte, die Altes verehrt, nur weil es alt ist, und unsere Museen sind Hochburgen der Konservierung unserer untoten Vergangenheiten. Das war nicht immer so. Die Sammlungen und frühen Museen der Renaissance waren voll von Neuem, von exotischen Tieren und seltsamem Gestein, von wissenschaftlichen Apparaten, fantasievoll montierten Drachen und ethnografischem Gerät. Das einzige Alte, was in ihnen Aufnahme fand, waren antike Kunstwerke – und auch die nur deswegen, weil in ihnen das Versprechen enthalten war, aus der heidnischen Antike heraus die große Macht der damaligen Zeit, die Kirche, zu transformieren, zu unterminieren.

Am Ende des 15. Jahrhunderts machte der italienische Sammler Ulisse Aldrovandi einige seiner besten Funde auf dem Fischmarkt, wo ihm Seeleute rätselhafte Kreaturen anboten. Bis dahin hatte man in Bibliotheken nach der Wahrheit gesucht, bei Plinius, Pythagoras und in der Bibel. Nun brachte jedes Schiff aus Amerika oder Indien Gegenstände nach Europa, über die diese Autoritäten nichts zu sagen hatten, und mit jeder neuen Ladung schwand die Macht der »Alten« ein bisschen mehr. Sammeln war intellektuelle Subversion.

Bis zum 19. Jahrhundert wandelte sich die Motivation von Museen radikal. Das Ethos des Klassifizierens und Konservierens wurde zur musealen Raison d’Être. Das neue, national basierte Geschichtsverständnis brauchte nationale Geschichte, die Wissenschaft konnte die Herrschaft der Vernunft und des Vaterlandes in endlosen Vitrinen demonstrieren. Der britische Kurator Sir William Henry Flower setzte dieser Geisteshaltung 1898 unfreiwillig ein Denkmal, als er einen jüngeren Kollegen beriet:

»Zuerst braucht man einen Kurator. Er muss sich sorgfältig den Zweck des Museums überlegen, die Art und die Fähigkeiten der Menschen, zu deren Belehrung es gegründet wird, und den passenden Raum… Dann wird er das zu illustrierende Wissensgebiet in kleine Gruppen unterteilen… Große Etiketten werden dann als Hauptüberschriften angefertigt, wie die Kapitel in einem Buch, und kleinere für die verschiedenen inneren Unterteilungen… Endlich kommen die veranschaulichenden Beispielobjekte, von denen jedes so bearbeitet und präpariert wird, dass es mit dem für ihn vorgesehenen Platz zurechtkommt.«

Das Wunderbare war aus der Welt verbannt, Gegenstände, die Rätsel aufgaben, waren zu Beispielobjekten eines zu illustrierenden Wissensgebietes geworden. Die Herrschaft des Geistes war, zumindest ihrem Anspruch nach, vollkommen.

Wir haben längst den uferlosen Glauben an Kultur und Geist verloren. Er ist auf den Schauplätzen der modernen Barbareien ermordet worden – an der Somme wie in Auschwitz, in Stalins Gulag, den Umerziehungslagern der Kulturrevolution und in den brennenden Dörfern von Vietnam. Die Zivilisation hat nicht geschützt vor alledem, und sie selbst ist deswegen erklärungsbedürftig geworden. Wir glauben nicht mehr an die Herrschaft des Geistes, die ist so verdächtig wie die Schönheit der Utopie und die Verführung der Macht, die Millionen mit sich gerissen hatten.

Unser Misstrauen und sein sentimentaler Zwilling, die Nostalgie, bestimmen unser Verhältnis zum Kulturbesitz in materieller und in ungreifbarer Form. Nur laufen wir längst Gefahr, nicht nur zu besitzen, sondern besessen zu werden. Wir sammeln und archivieren, wir konservieren, edieren und klassifizieren eine unabsehbare Flut von Dokumenten aller Art, von Akten bis Zugwaggons. Keine Fassade darf angetastet werden, jedem noch so trivialen Gegenstand wird historische Bedeutung zugesprochen. Unsere Hochkultur ist ein Repertorium ihrer eigenen Vergangenheit; der Sammelimpuls, der einmal subversiv und künstlerisch gewesen ist, ist ins Kuratorische, im Wortsinn Konservative umgeschlagen.

Noch heute stehen nichtwestliche Kulturen dieser Haltung oft verständnislos gegenüber. Wer die historischen Tempel von Kyoto besucht, wird finden, dass ein Gebäude zwar auf das 12. Jahrhundert zurückgeht, aber seitdem regelmäßig abgerissen und wieder aufgebaut wurde: Für den Ahnenkult des Shintoismus ist altes Gebälk wertlos. Was zählt, ist nur das Weiterführen einer lebendigen Tradition.

Wir sind die erste Kultur der Weltgeschichte, die Altes verehrt, nur weil es alt ist. Die Implikationen dieses Satzes für unser Selbstverständnis lassen sich kaum überschätzen.

Unser Altertumsfetischismus besteht noch nicht lange, und seine Geburt lässt sich historisch exakt verorten. Noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts war Kultur hauptsächlich Gegenwartskultur. In Mozarts Wien hörte man neue Musik; ein altes Streichquartett war eines aus der letzten Saison. Das kulturelle Hauptereignis im vorrevolutionären Frankreich war der alljährliche Salon für neue Malerei. Es gab alte Kunst und Reliquien (religiös wie säkular), die eine geistige Ahnenfolge herstellten; niemand aber wäre auf die Idee gekommen, für einen zweihundertjährigen Stuhl mehr zu bezahlen als für einen neuen. Im Gegenteil. Wer es sich leisten konnte, richtete sich neu ein, wer sparen musste, passte seine Möbel tunlichst dem Zeitgeschmack an. Altes Zeug gab es nur in den endlosen Zimmerfluchten unbewohnter Schlossflügel und den Kramläden für arme Leute.

Mit architektonischen Monumenten war es ähnlich. Ein Fürst konnte sein Seelenheil fördern, indem er einer gotischen, längst nicht mehr modernen Kirche eine neue Fassade oder eine Generalüberholung stiftete. Dann wurden die originalen, jahrhundertealten Figuren einfach abgehackt und die Fresken mit neuem, puttenbewehrtem Stuck überputzt. Europa ist voll von solchen Kirchen, denn niemand hielt so etwas für ein kulturelles Sakrileg. Schließlich standen die Kirchen selbst auf älteren Kirchen, und diese auf römischen Tempeln.

Die Vergangenheit war nur ein Aspekt einer lebendigen, längst nicht abgeschlossenen Tradition. Sie wuchs und änderte dabei ihr Gesicht. Noch im viktorianischen England konnten Maler und Architekten der gotischen Abteikirche von St Albans, die einfach nicht gotisch genug aussah, eine neue, mit Türmchen, Statuen und Fensterrosen bewaffnete Fassade geben, während Eugène Viollet-Le-Duc die Sainte-Chapelle in Paris ähnlich fantasievoll »renovierte«. Um zu solchen Bauprojekten eine Parallele zu haben, stelle man sich vor, heute würde Frank Gehry großzügig anbieten, der Kathedrale von Chartres eine computergenerierte Stahlfassade zu verpassen. Der Gedanke schockiert uns, aber noch vor wenigen Generationen hätte kaum jemand ihn abwegig gefunden.

Was hat sich geändert? Wir haben uns geändert. Die Mittelklasse hat triumphiert, eine Klasse ohne Vergangenheit, dazu verdammt, über die eigene Schulter zu sehen. Von keiner Tradition gestützt, entdeckte das Bürgertum nicht nur seine Macht, sondern auch seine Schwerelosigkeit im Raum der Geschichte, und eine große Vergangenheit wurde zum notwendigen Ballast.

So kam es zur Erfindung der Antiquitäten. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Wörter »Antiken« und »Antiquitäten« sowohl in Deutsch als auch in Französisch und Englisch austauschbar verwendet worden, und zwar für Stücke, die aus dem klassischen Altertum stammten. Jetzt aber wurde eine andere Art von historischer Anbindung gebraucht; alte Gegenstände wurden zu Boten einer verlorenen Authentizität. Balzacs fanatisch sammelnder Cousin Pons  (Le cousin Pons,  erschienen 1847) ist ein Repräsentant der neuen, bürgerlichen Mentalität, für die Altes eine eigene, reliquienhafte Aura hat. Auch Napoleons Petits Appartements wurden um diese Zeit herum in ihr Vergangensein eingesiegelt.

Das 20. Jahrhundert und besonders die Zeit nach 1945 hat diese Tendenz verstärkt und beschleunigt. Nach den großen und katastrophalen ideologischen Entwürfen der Totalitarismen trauen wir keiner Vision mehr, wir glauben nur noch an das, was wir mit Händen halten können. Die Wirtschaft hat die Politik verdrängt, und gleichzeitig wächst die Angst vor den Konsequenzen unseres Wohlstands. Im Schatten der Klimaveränderung, die durch unser Luxusleben angeheizt wird, sehen wir in jedem alten Suppenlöffel den Inbegriff einer intakten Welt. Während Regenwälder verschwinden und die Ozonschicht schmilzt, restaurieren wir minutiös die Gemäuer vergangener Jahrhunderte.

Die Kirchen, die im Barock neu dekoriert wurden, werden heute auf ihren gotischen »Originalzustand« restauriert. Kultur im Rückwärtsgang. In Berlin soll sogar ein barockes Stadtschloss wieder aufgebaut werden, von dem kein Stein mehr auf dem anderen steht und das nie einen besonderen ästhetischen oder historischen Wert hatte. Anstatt einen symbolträchtigen Baugrund als Chance für eine selbst gestaltete Zukunft zu nutzen, bauen wir uns unseren eigenen Hohenzollern-Themenpark.

Bewahren und Erhalten sind zum kulturellen Apriori geworden, zu Synonymen für Kultur schlechthin. Der Korrespondent der  Neuen Zürcher Zeitung  schrieb über die französische Kulturlandschaft vor einigen Wochen: »Mit der Eröffnung des Musée du Quai Branly, der Metamorphose der Cinémathèque française, des Petit Palais, des Musée de l’Orangerie und der Salle Pleyel sowie der Renovation des Théâtre de l’Odéon, des Musée d’Art moderne de la Ville de Paris und des … Grand Palais dürften die vergangenen zwölf Monate als eine ausserordentlich fette Zeit in die Kulturgeschichte der französischen Kapitale eingehen… Das Angebot scheint von Monat zu Monat reicher zu werden – sogar das Gemaule der hiesigen Snobs, in Berlin, London und New York sei ›mehr los‹, ist verstummt. Vielleicht wird man vom Beginn des 21. Jahrhunderts einmal als einer goldenen Zeit schwärmen…«

Eine »fette Zeit der Kulturgeschichte«, eine »goldene Zeit«? Nicht Maler und Schriftsteller, Musiker und Schauspieler vergolden diese Epoche, sondern Museen und Konzertsäle – Institutionen also, die Kunst verwalten und vermitteln, nicht aber schaffen. Um in Paris eine wirklich goldene Zeit zu finden, muss man hundert Jahre zurückgehen, als Proust und Picasso, Ravel und Sarah Bernhardt hier gleichzeitig arbeiteten. Eine goldene Zeit kultureller Institutionen ist eben leider keine goldene Zeit der Kultur. Allerdings haben wir uns längst an das Leben in der Vergangenheit gewöhnt: nicht nur in Museen, auch auf Konzert- und Theaterprogrammen sind wir überwältigt davon. Unsere Kultur selbst ist museal.

Unser Umgang mit der Vergangenheit erinnert auf fatale Weise an das wissenschaftliche Team, das sich um Lenins einbalsamierten Leichnam kümmerte: Geschminkt und mit Chemikalien vollgepumpt, galt die Mumie den Genossen als Beweis, dass es die geniale Epoche wirklich einmal gegeben habe. In seiner posthumen Erstarrung war nur noch wichtig, dass der Verfall nicht fortschritt.

Wir sind eine Kultur des ewigen Jungseins, der dauernden Neuerungen, die wieder in der Versenkung verschwinden, bevor sie altern können. So ist zwischen dem Hintergrundrauschen der Trends und der Mumifizierung des Alten eine Sphäre entstanden, die nicht mit Vergänglichkeit leben kann, weder mit dem Altern noch mit anderen Arten von Verfall. In unser Erbe einzugreifen, wie man es noch bis vor hundert Jahren selbstverständlich tat, wäre für uns eine Art Leichenschändung. Damit aber wird auch unsere Kultur nekrophil. In einer Welt, in der man keinen Schritt gehen kann, ohne einem Kurator auf die Füße zu treten, bleibt man am besten gleich stehen.

Die mumifizierte Vergangenheit wird nach wechselndem Zeitgeschmack geschminkt und aufgedonnert: Wenn sie doch eine eigene Stimme hat, ist sie suspekt, denn es ist die Sirenenstimme einer Zeit der gefährlichen Ideologien, die Stimme der Verführung. Wir misstrauen den Motiven und den Träumen der Vergangenheit. Wenn wir sie nicht in Formalin legen können, müssen wir sie neutralisieren, indem wir sie verkitschen oder analytisch unterwandern.

Nur eine tote Vergangenheit ist eine gute Vergangenheit, besonders, wenn sie noch dazu lukrativ sein kann. Touristen und andere Verbraucher wollen unterhalten werden. Je einfacher und antiseptischer die Präsentation, desto größer die Einnahmen. So haben viele Museen ein Gutteil ihrer alten, prall gefüllten Glaskästen weggepackt und präsentieren jetzt eine konsumfreundliche Story-Version ihrer Exponate, auf ein Minimum zusammengeschrumpft und optimal aufbereitet durch Computeranimationen, Audio und Video. Didaktik-Entertainment mit echten Requisiten.

Das Schlimmste, was einem Konsumenten passieren kann, ist es, mit einer fremden Stimme, einer schwer verständlichen Vielfalt allein gelassen zu werden. Also wird mundgerecht aufbereitet und gnadenlos simplifiziert. Sogar im Louvre sind überall hilfreiche Hinweisschilder zur  Mona Lisa  und zur  Venus von Milo angebracht, direkt an Tausenden von anderen (oft interessanteren) Werken, die bloß noch den Heilsweg der Besucher säumen. Es wäre wesentlich sinnvoller, Leonardos Schöne gleich nach Disneyland Paris auszusiedeln, so würden sich Millionen von Touristen einen lästigen Umweg sparen.

Eine ganze Kultur starrt auf Napoleons Gardinen. Nur die Perspektive der Zuschauer unterscheidet sich – die einen lugen von innen furchtsam hinaus in die böse weite Welt jenseits der historischen Sicherheiten, die anderen glotzen neugierig hinein, um sich am musealen Spektakel zu belustigen.

Hier ist es an der Zeit, mein Geständnis zu erneuern: Ich selbst bin Teil dieser fetischistischen Kultur. Ein jahrhundertealtes Meisterwerk berührt mich (meist leider mehr als der Großteil der zeitgenössischen Produktion), die Oberfläche einer alten Tür und der Geruch eines antiquarischen Buches können mich begeistern. Ich selbst bin Historiker. Ich bin mittendrin. Gleichzeitig aber suche ich nach einem Ausweg aus dem Museum, denn ich lebe heute und will den Puls meiner eigenen Zeit spüren, jenseits von Massenkommerz und den letzten Zuckungen einer ideenleeren Avantgarde.

Vor einigen Jahren wurde der Dirigent und Komponist Pierre Boulez in seinem Baseler Hotel festgenommen. Der alte Herr stand unter Terrorverdacht. Wie sich später herausstellte, hatte er in seiner wilden Zeit, während der siebziger Jahre, verlauten lassen, man solle alle Opernhäuser in die Luft jagen. Die eifrigen Schweizer Behörden hatten ihn damals auf eine Liste von Terrorverdächtigen gesetzt, und nach dem 11. September 2001 war diese Liste wieder ausgegraben worden.

Können wir die Geister unter den angehäuften Grabsteinen unserer Vergangenheit wieder zum Leben erwecken, ohne die Methoden der Taliban anzuwenden, als sie die Buddhastatuen von Bamiyan sprengten? Schließlich sind selbst Museen nicht immer konservativ gewesen. In der Renaissance waren sie Werkzeuge der kulturellen Umwälzung und der individuellen Fantasie. Was die Kultur der Naturalienkammern und Wunderkabinette antrieb, war die Intuition, dass die Objekte mehr zu sagen hatten, als man bereits wusste, dass sie eine eigene Stimme hatten, dass man ihnen zuhören und in ihre eigenen Geschichten folgen musste.

Wir haben unsere Verbindungen mit der Vergangenheit gekappt, weil wir ihren anarchisch raunenden Stimmen misstrauen und weil wir sie als zutiefst andersartig begreifen, eine vormoderne Epoche, eine Zeit der Ignoranz, der wir entwachsen sind. Ob römische Ruine oder Bergwerksturm von 1920 – die Überbleibsel der Vergangenheit sprechen von einer Welt, die nicht mehr die unsere ist. Ohne die historische Kontinuität aber bleibt nur die seltsame Brühe aus konzeptueller Beliebigkeit und archivarischer Nekrophilie, in der wir seit Jahrzehnten leise köcheln.

Das Raunen der Vergangenheit, das uns so viel Angst macht, gehört zu uns. Wir brauchen den Ballast der Vergangenheit. Ballast hat die Funktion, dem Vorwärtsgehenden Gewicht und Richtung zu geben. Wer weiterkommen will, braucht Ballast, er muss aber auch bereit sein, einen Teil davon über Bord zu werfen.

Kreativität entspringt aus dem Bewusstsein der Sterblichkeit und Vergänglichkeit, aus der Dialektik von Eros und Thanatos. Ist das romantisch gedacht? Vielleicht – aber in einer Landschaft, in der jede Ruine bis auf den letzten Kiesel festzementiert und mit Parkplatz und DIN-normierten Geländern versehen ist, hätten wohl weder Shelley noch Caspar David Friedrich viel Inspiration gefunden. Es ist ja gerade das Wissen, dass die Ruine im Zerfall begriffen ist, die sie mit unserer Gegenwart verbindet. Wenn wir diese Verbindung nicht wiederfinden, bleibt der Ausgang aus dem Museum unserer Kultur verschlossen. Bei Napoleon muss dringend durchgelüftet werden, auch wenn seine brüchigen Gardinen anfangen sollten, gefährlich im Wind der Gegenwart zu flattern.

Wir brauchen nichts so sehr wie Mut zur Vergänglichkeit.

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Philipp Blom, Historiker

22.2.2017

Alexander Solloch | NDR Kultur |Klassik à la carte

Vor 400 Jahren herrschte eine kleine Eiszeit - die Menschen froren und hungerten. Warum deswegen das moderne Europa entstand, verrät Historiker Philipp Blom im Gespräch.

» gesamte Sendung anhören:

http://www.ardmediathek.de/radio/NDR-Kultur-Klassik-%C3%A0-la-carte/Philipp-Blom-Historiker/NDR-Kultur/Audio-Podcast?bcastId=20246234&documentId=40800908

NDR Kultur Sachbuchpreis 2017: 16 Bücher nominiert für die Longlist

5.10.2017

263 Bücher sind eingereicht worden – 16 Titel haben es auf die Longlist des NDR Kultur Sachbuchpreises geschafft. Das Spektrum ist eindrucksvoll.

Die Longlist in der Übersicht:
https://www.buchreport.de/2017/10/05/ndr-kultur-sachbuchpreis-2017-16-buecher-nominiert-fuer-die-longlist/

Wer die Ängste kontrolliert, kontrolliert auch die Menschen

8.8.2018

Deutschlandfunk 07.08.2018

Angst ist das vorherrschende Gefühl unserer Zeit, weswegen viele Menschen nicht mehr mutig und freiheitlich denken können, glaubt der Historiker Philipp Blom und fordert in seiner Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele eine neue Aufklärung.
"Aus der ersten intellektuellen Liebe ist eine lebenslange, nicht immer reibungslose Beziehung mit dem methodischen Denken geworden, eine seltsame Fernbeziehung mit den leuchtenden Ideen von Leuten, die längst nicht mehr am Leben sind. Diderot und die anderen Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts lebten zu einer Zeit, in der die hellsten Köpfe gerade begannen, die ersten Atemzüge der Moderne zu spüren. Bei ihnen lernte ich, dass weder die Aufklärung noch die Philosophie überhaupt aus einem Katalog von Lehrsätzen und dicken Büchern besteht, sondern aus einer Landschaft von Debatten, Provokationen, Entwürfen und Experimenten. Philosophie ist, wie die Schweizer Philosophin Barbara Bleisch es formuliert, 'riskantes' Denken."
Doch das Prinzip Aufklärung, als der Versuch, das kritische Denken und den Respekt vor Fakten höher zu achten, als Meinungen, Vorurteile, Gefühle, Traditionen oder Dogmen, sei in der heutigen Zeit in die Defensive geraten, meint Blom.
"In den Zeiten von Fake News, in denen Faktenwissen von Filterblasen abgewehrt wird, ein amerikanischer Präsident sich selbst als Lügner täglich überbietet und in dem auch hierzulande 'stichhaltige Gerüchte' bemüht werden, um die alte Mär von der jüdischen Weltverschwörung wieder wach zu kitzeln, muss man diesen Punkt nicht weiter ausführen."

Angst durch fließende Destabilisierung

Tatsächlich sei Angst das vorherrschende Gefühl in der westlichen Welt. Obwohl immer weniger Menschen hungern und gewaltsam sterben, und in den Ländern des Westens mehr Sicherheit herrsche, als je zuvor, fürchteten immer mehr Menschen den Verlust von Besitz und Status.
"Das macht es so gefährlich, dass wir in ängstlichen Gesellschaften leben. Ängstliche Menschen denken anders, nehmen die Welt anders wahr als zuversichtliche. Jene, deren Beruf und Strategie es ist, Wählerinnen und Konsumenten zu manipulieren, wissen: Wer die Ängste kontrolliert, kontrolliert auch die Menschen. So verschiebt sich das Meinungsklima fast unversehens weg von Ideen wie Menschenrechten und Freiheit und hin zu Identität und Sicherheit in einer feindlichen Welt und damit von der Diskussion zur Konfrontation. Vor dieser Drohkulisse verblasst die rationalistische Aufklärung zum Scherenschnitt mit gepuderter Perücke."

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Foto: dpa / picture-alliance / Arno Burgi

Fremdsein in Wien: Keiner weint dir nach

27.8.2014

Wien hat seit 1945 nicht an zu viel, sondern zu wenig Fremdheit gelitten. Ein neues Migrantenproblem ist entstanden, denn fremde Stimmen sind kaum daran beteiligt, die neuen Geschichten dieser Stadt mitzuformen.


Wien ist ein idealer Ort, um über das Fremdsein nachzudenken. Von den Türkenbelagerungen bis zu den kulturellen Konflikten in der Hauptstadt des Habsburgerreiches ist dies immer ein Ort gewesen, an dem Fremdheit und rivalisierende Nationalitäten den politischen Alltag prägten und den Autoren dieser Stadt ein besonders scharfes Ohr für Idiome und Identitätsentwürfe gaben.
Die Fremdheit ist das, was anders ist, was nicht Teil ist von uns. Als ein im protestantischen Norden aufgewachsener Deutscher bin ich fremd in Österreich, weil ich die Geschichten, die einen Österreicher ausmachen, nur begrenzt teile – wenn auch viel mehr als eine Migrantin aus Ghana oder Vietnam. Die Unterschiede reichen von Wörtern, Akzenten und Sprachmelodien (als Kind dachte ich, Falco sänge La didel dum, der Kommissar geht um) bis hin zu Gutenachtgeschichten und dem hier alles durchdringenden kulturellen Katholizismus, das gewisse Fatalistisch-Barocke, der Schmäh. Ich kenne sie und bewundere sie oft, aber aus einer Außenperspektive. Meiner säkularen Weltsicht zum Trotz bin und bleibe ich Kulturprotestant.

Wien ist ein idealer Ort zum Fremdsein, und es hat seine kulturell größte Zeit erlebt, als sich hier Tschechen und Ungarn, Deutsche und Juden aneinander rieben, mit- und oft auch gegeneinander lebten und Geschichten von sich erzählten. Denn Fremde sind geborene oder doch gewordene Geschichtenerzähler. Wer sich nicht als gegeben hinnehmen kann, der muss sich erklären, rechtfertigen, neu erfinden, muss seinen Gründungsmythos pflegen. Wer weggegangen ist von zu Hause, hat damit eine Geschichte begonnen, die zu Ende zu erzählen er verdammt ist. Nur was für Geschichten er sich erzählt, das liegt an der Situation, in der er lebt.
Die Bibel, einer unserer Gründungsmythen, ist geradezu besessen von Fremdheit und Exil: die Vertreibung aus dem Paradies, die Sintflut, der Turmbau zu Babel, Israel in Ägypten, Hiob und Jonas, das babylonische Exil – alles Geschichten von Fluch und Flucht, Versuchung und Verwirrung. Jedes Stück Brot erzählt eine Geschichte über Hungersnöte und Ernten, Armut und Reichtum, Städter und Bauern, Rituale und Werte. Wer, wie meine Mutter, kein Brot wegwerfen konnte, weil sie vielleicht den Krieg erlebt hatte, kann es nicht, weil Brot für so viel steht, weil der Bedeutungsgehalt einer Scheibe Brot so unglaublich viel höher ist als der Nährwert.
Der Fremde ist der Noch-nicht-Angekommene, der Nicht-Selbstverständliche. Um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert erzählten sich Fremde in Wien ihre Geschichten und schufen dadurch eine neue Sprache der Identität: Karl Kraus durch seine Sprachethik, Schnitzler in die Verstrickungen seiner Figuren in ihre Geschichte, Mahler in seiner Zerrissenheit zwischen ekstatischer Hoffnung und Ironie, Freud durch die Benennung psychischer Strukturen und so weiter, on connaît la chanson.

Wie bei allen Migrantengruppen vollzog sich dies auch bei den Juden in einer Entwicklung über zwei oder drei Generationen. Der erfolglose Tuchhändler Kallamon Jacob Freud war ebenso wenig eine Stütze der Wiener Hochkultur wie heute der Besitzer einer türkischen Bäckerei um die Ecke, aber er brachte große Opfer, um es seinem Sohn Siegmund zu ermöglichen, eine gute Schule zu besuchen. Es waren die Kinder und Enkel der jüdischen Einwanderer, die die Kultur der Jahrhundertwende maßgeblich prägten. Machen es die eigenen Traditionen und westlichen Strukturen dem Sohn oder der Enkelin des türkischen Bäckers heute leichter oder schwieriger, an der Kultur seines Heimatlandes Österreich teilzunehmen?
Vor einiger Zeit habe ich einer Freundin Wien gezeigt. Am Graben sah sie sich um und flüsterte: „I miss the Jews.“ Tatsächlich hat Wien seit 1945 nicht an zu viel, sondern zu wenig Fremdheit gelitten. Ein neues Migrantenproblem ist entstanden, denn fremde Stimmen sind kaum daran beteiligt, die Sprache und die neuen Geschichten dieser Stadt mitzuformen. Sogar aus der überdurchschnittlich gebildeten und überwältigend säkularen iranischen Emigration hat kaum einmal jemand Aufnahme in die kulturellen Institutionen und ihre Diskussionen gefunden.

Fremd sein in Wien heißt leider oft auch fremd bleiben, denn anders als in den großen Metropolen ist die Alltagskultur Wiens heute nur wenig international geprägt. Der Traum vom Kulturraum Mitteleuropa scheint ausgeträumt oder doch eingemottet mangels Bedarf. Osteuropäische Nachbarn machten ihre Ovationen nach dem Mauerfall lieber in Richtung Brüssel, oder gleich Washington. Dabei muss man sich in der Heimat des großartig geplanten „Bahnhof Europa Mitte“ immer mehr nicht nur mit der Fremdheit auseinandersetzen, sondern auch mit der Politik gewordenen Angst davor. „Fremdheit ist Bedrohung“, heißt der Sirenenruf, dem auch im bürgerlichen Lager kaum ein Politiker widerstehen kann. Die dafür benutzte Schablone der kulturellen Identität entstammt dem Kulturkampf der Zwischenkriegszeit, der volkstümelnden Verklärung der ländlichen Armut. Das ist die Kultur, die durch Fremde nicht zerstört werden darf.

Wenn wir nicht zu bloßen Wärtern im Museum Europa werden wollen, wenn wir eine Kultur wollen, die sich selbst neu definiert, ist dies nur in der Auseinandersetzung mit den fremden Stimmen in der eigenen Gesellschaft möglich. Migrantinnen und Asylsuchende, Flüchtlinge und Exilanten konfrontieren nicht nur mit Fremdheit, sondern auch mit dem Abhandenkommen der Selbstverständlichkeit im eigenen Leben. Heute steckt in jedem von uns ein Migrant, wir wissen, dass wir für die anderen selbst andere sind, dass unsere Wahrheit nicht über alles erhaben ist, unsere Identität instabil und immer aufs Neue ausgehandelt. Das Fremde ist nicht mehr das, was unterworfen werden muss, heute ist es ein Teil von uns, durch den wir lernen uns selbst besser zu verstehen, Grenzen zu definieren und Möglichkeiten zu entdecken.
„You come and go and nobody cries after you“ – so hat eine 1939 aus Ungarn geflüchtete Freundin und Weltenbürgerin einmal sehr lakonisch ihr Fremdsein beschrieben. Sie spricht verschiedene Sprachen, aber keine ohne Akzent, ist fremd, wo immer sie lebt, und hat es sich damit eingerichtet. Vielleicht schaffen wir es ja doch noch, unsere Gesellschaften nicht als fiktive Volksgemeinschaften, sondern als solidarische Netzwerke von potenziellen Fremden zu denken, denn jede Person, der keine Träne nachgeweint wird, ist eine verlorene Chance.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.03.2010)
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Sachbuch der Woche: „Eine italienische Reise“

14.11.2018

Woher kommt eigentlich das Instrument, auf dem ich täglich übe? Diese Frage nimmt Bestsellerautor Philipp Blom zum Anlass, sich in "Eine italienische Reise" auf die Spuren eines Auswanderers zu begeben, der vor 300 Jahren seine Geige baute. Durch den persönlichen Ansatz ist eine spannende und bildhaft erzählte Kulturgeschichte des Geigenbaus entstanden.

Manchmal liegt Geschichte näher als man denkt, zum Beispiel in dem Instrument, was man spielt. "Woher kommt eigentlich meine Geige?" Diese Frage stellte sich eines Tages Philipp Blom, der als Kind liebend gern Violinist geworden wäre. Aus Vernunftgründen entschied er sich dann aber für die Geschichtswissenschaften und ist heute Autor einiger Bestseller, unter anderem von "Der taumelnde Kontinent", "Die Welt aus den Angeln" oder zuletzt "Was auf dem Spiel steht". Doch die Frage "Woher kommt eigentlich meine Geige?" hat Philipp Blom nicht losgelassen und ist Thema seines neuesten Buches.

Fast wie bei Goethe

Unweigerlich denkt man bei "Eine italienische Reise" an Goethe und seinen Klassiker der Reiseliteratur. Doch bei Philipp Blom ist diese Reise mehrdeutig zu verstehen. Denn nicht nur er selbst reist nach Italien, genauer gesagt nach Venedig, weil er glaubt, dass seine Geige dort Anfang des 18. Jahrhunderts hergestellt wurde. Zugleich erzählt Philipp Blom auch von einem jungen Mann aus Füssen im Allgäu, von dem er annimmt, dass dieser vor 300 Jahren nach Italien ausgewanderte, um dort das Handwerk beziehungsweihe die hohe Kunst des Geigenbaus zu erlernen. Philipp Blom nennt diesen Mann Hanns, ob er allerdings wirklich so hieß, das ist bis zum Schluss offen.

Von Füssen nach Venedig

Zunächst hat Philipp Blom nur wenige Anhaltspunkte, woher genau seine Geige stammen könnte und wer sie gebaut hat. Alles, was er weiß, ist, dass es ganz sicher keine Stradivari ist und auch sonst kein Modell, das sich auf den ersten Blick einem berühmten Geigenbauer zuordnen lässt. Deshalb berät sich Philipp Blom mit Experten, die ihm Hinweise darauf geben, dass das Instrument in seiner Bauweise sowohl deutsche als auch italienische Merkmale aufweist, zum Beispiel in der Art wie das Holz bearbeitet und geformt ist.

Philipp Blom schließt daraus, dass sein Geigenbauer vermutlich aus Füssen kam, im 17. und 18. Jahrhundert ein wichtiges Zentrum für den Bau von Lauten und Geigen, und dass er von dort höchstwahrscheinlich über die Alpen nach Italien gezogen ist. So wie es viele junge Männer aus Füssen gemacht haben, lag dort doch zu der Zeit der größte Absatzmarkt für Streichinstrumente. Allein Venedig verfügte über 14 Opernhäuser mit unzähligen Musikern. Um diese Wanderbewegung von Instrumentenbauern anschaulich zu machen, erfindet Philipp Blom sich eben jenen Hanns, um in die Geschichte des Geigenbaus einzuführen.

"Jedes Mal, wenn mich meine Geige zur Hand nahm, fühlte ich, dass ich jemandem begegnete: einem Menschen, der vor zehn Generationen gelebt und etwas erschaffen hatte, das auch nach so langer Zeit noch immer seine Stimme erheben und die Menschen berühren konnte. Die Resonanzen, die ich heute hörte, hatte auch der Unbekannte einst gehört, er hatte das Holz so lange bearbeitet, bis es diesen Klang erreicht hatte, mit warmen, lebenden Händen. Das ist es, warum ich Historiker geworden war. Die Finger vergangener Leben griffen nach mir. "

Eine Kulturgeschichte des Geigenbaus

Der besondere Reiz dieses Buch liegt in seiner Form. Philipp Blom kann sehr bildhaft erzählen und tut zugleich etwas, was vor allem im englischsprachigen Raum schon lange üblich ist, was man aber auch immer häufiger in Sachbüchern deutscher Historiker antrifft. Er berichtet nämlich nicht nüchtern von historischen Ereignissen, sondern bettet sein Thema in eine persönliche Geschichte ein. So erfahren wir nicht nur Wissenswertes über Instrumente und deren Erbauer, sondern begleiten Philipp Blom unter anderem in die Wiener Werkstatt, in der er die Geige, um die es geht, gekauft hat. 

Er erzählt, wie er als kleiner Junge stundenlang übt und dann aber feststellen muss, dass sein Talent nicht reicht, was Philipp Blom ganz offensichtlich bis heute schmerzt, schließlich waren seine Eltern Musiker. Außerdem erfahren wir, wie ihm einmal eine andere, sehr teure Geige gestohlen wird und wir lesen über schicksalshafte Momenten im Leben von Philipp Blom, in denen die Musik von Johann Sebastian Bach eine wichtige Rolle spielt. Durch das Buch zieht sich so neben der kulturhistorischen immer auch eine gegenwärtige persönliche Ebene. Die ist an manchen Stellen sehr berührend, weil sie wie ein klassisches Drama von Leid und Leidenschaft erzählt.


Bogen in die Gegenwart

Der Bezug zur Gegenwart liegt schließlich bereits im Titel verborgen: "Eine italienische Reise. Auf den Spuren des Auswanderers, der vor 300 Jahren meine Geige baute". Es ist eben ein Auswanderer, jener fiktive Hanns, den sich Philipp Blom hier imaginiert, der von Füssen nach Italien zieht, weil er sich dort ein besseres Auskommen, bessere Perspektiven erhofft. Von der idyllischen Kleinstadt geht er in eine damals brodelnde Metropole und erweitert so seinen Horizont erheblich. Immer wieder weist Philipp Blom darauf hin, dass seine Geige das Produkt einer deutsch-italienischen Zusammenarbeit ist. Gerade deshalb hat sie wohl diesen warmen Klang, den er so liebt.

» Gesamten Beitrag anhören: https://www.mdr.de

Das Elend des Liberalismus – und wie es überwunden werden kann

10.9.2017

Watson.ch | Philipp Löpfe

Der deutsche Historiker Philipp Blom beschreibt in seinem Buch «Was auf dem Spiel steht» die Krise des Liberalismus und zeigt einen möglichen Ausweg auf.

» mehr: http://www.watson.ch/Wissen/Gesellschaft%20&%20Politik/908398580-Das-Elend-des-Liberalismus-–-und-wie-es-überwunden-werden-kann

Wir zerstören nicht den Planeten, wir zerstören uns selbst

23.7.2017

SRF | Leslie Leuenberger

Die Folgen des Klimawandels sind deutlich sichtbar. Doch wir verschliessen die Augen, sagt der Historiker Philipp Blom.

SRF: Klimaforscher rechnen damit, dass sich die Erde bis 2100 um 0,9 bis 5,4 Grad erwärmt. Provokativ gefragt: Wieso ist das schlimm?

Philipp Blom: Es geht nicht bloss darum, dass die Temperaturen ansteigen. Es geht darum, dass sich ganze Wettersysteme verändern. Durch das Abschmelzen der Polarkappen gerät mehr Süsswasser in den Ozean, was ganze Ozeanströme verändert.

Die Folge davon: das Wasser dehnt sich aus, die Wasserspiegel steigen, Gebiete werden überschwemmt. Mit bis 2 Grad mehr kann man vielleicht noch leben, mit 5.4 Grad wird der Homo Sapiens wohl nicht mehr zurechtkommen.
Sprechen wir hier von einer Katastrophe für den Menschen und den Planeten?
Es gibt Biologen, die jetzt schon vom sechsten grossen Artensterben sprechen. Vom Fisch im Ozean bis zum Menschen – die ganze Nahrungskette ist betroffen. Dieses Artensterben wäre eine Katastrophe.

Wir dürfen uns aber als Menschen nicht überschätzen. Wir haben es als erste Spezies in der Erdgeschichte geschafft, in diese Klimasysteme bleibend einzugreifen.

Die Erde wird sich aber von diesem Eingriff wieder prima erholen. Nach ein paar hunderttausend Jahren wird sie wieder gedeihen und blühen und es werden neue Tierformen entstehen. Wir zerstören nicht den Planeten, wir zerstören lediglich uns selbst.

Ihr Buch «Die Welt aus den Angeln» handelt von klimatischen Veränderungen in den Jahren 1570 bis 1700 – der kleinen Eiszeit. Sie beschreiben ihren Einfluss auf die damalige Gesellschaft. Wie wird sich der Klimawandel des 21. Jahrhunderts auf unsere Systeme auswirken?

In Afrika und Asien sind ganze landwirtschaftliche Regionen betroffen. Regionen, die zum einen Millionen von Menschen mit Nahrung versorgen, zum anderen einen gesellschaftlichen Zusammenhalt bieten. Diese Gebiete verschieben sich durch die Klimaveränderung.

Das hat zur Folge, dass ganze Populationen plötzlich vor dem Nichts stehen. Nicht nur die Einnahmequelle und die traditionelle Lebensweise dieser Menschen werden zerstört, auch politische Systeme werden sich umkehren.

Das heißt: mehr Migration, weniger internationale politische Stabilität und vermutlich auch mehr Terrorismus. Die Menschen, die abwandern, werden nicht empfangen und mit Arbeit versorgt. Es sind die Menschen, die leicht radikalisiert werden können.
Die breite Mehrheit der Bevölkerung in industrialisierten Ländern stellt den Klimawandel nicht infrage. Trotzdem verschliessen die meisten von uns die Augen und machen weiter wie bisher.
Wir Menschen reagieren sehr gut auf plötzliche Krisen: bei einem Erdbeben, einer Sturzflut, einem Unfall. Mit einer schleichenden Krise wie dieser ist es für uns wesentlich schwerer umzugehen.
In unseren reichen Ländern sehen wir die unmittelbaren Effekte des Klimawandels noch nicht. Die Tatsache, dass wir uns in einer Notsituation befinden, dringt zu den Menschen in ihrem täglichen Leben nicht durch. Der stärkste Effekt, den wir wahrnehmen, sind die Flüchtlinge.

Dennoch sind kleine Bewegungen spürbar. «Zero Waste», das Vermeiden von Abfall etwa, hat sich zu einem festen Begriff entwickelt. Haben wir als Bürger überhaupt einen Einfluss?

Mit Sicherheit. Wenn die Konsumenten sich von umweltverschmutzenden Technologien abwenden, Plastik vermeiden, nicht mehr übermässig Fleisch konsumieren oder auf nachhaltige Labels achten, dann wird sich der Markt diesen Bedürfnissen anpassen.

Bewegungen wie «Zero Waste» erreichen bis jetzt nur wenige. Die Herausforderung, diese Debatte auszuweiten, ist gigantisch.

Wer muss handeln: Politiker, Unternehmen oder Bürger?

Alle. Jedes Land hat die Politikerinnen, die es verdient. Und dass Politiker nicht so entschieden reagieren, wie das aus einer historischen Perspektive wichtig ist, liegt daran, dass die Wählerinnen und Wähler zu wenig Druck ausüben.

Selbstverständlich müssen auf staatlicher und multilateraler Ebene Massnahmen getroffen werden. Aber es fängt mit uns und unserem Alltag an.

Opfer des Klimawandels sind die zukünftigen Generationen. Liegt darin das Grundproblem?

Ich denke mir: Wäre es nicht wunderbar, wenn Leute unter 30 Jahren eine starke Lobbygruppe gründen würden? Mit dem Ziel darauf zu achten, wie zukunftstauglich unsere Politik ist. Nicht aus einem ideologischen, sondern aus einem biologischen Grund.
Der Physiker Stephen Hawking gibt der Menschheit noch 100 Jahre. Sehen Sie die Zukunft auch so schwarz?
Ich bin kein Prophet. Als Historiker interessiere ich mich für Strukturen, die unter den Ereignissen liegen. Der Klimawandel wird wichtige globale Effekte mit sich tragen.

Ich kann nicht sagen, wie konstruktiv und klug wir auf diese Entwicklungen reagieren werden. Aber dass sie unsere Gesellschaft in den nächsten Jahrzehnten massgeblich prägen werden, daran liegt kein Zweifel.

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https://www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/wir-zerstoeren-nicht-den-planeten-wir-zerstoeren-uns-selbst

NDR Buch des Monats: „Bei Sturm am Meer“

29.7.2016

Philipp Blom ist ein publizistisches Allround-Talent: Schriftsteller, Journalist und Wissenschaftler in einer Person. Seine Publikationen erhalten regelmäßig Preise. Darunter befindet sich auch eine Auszeichnung beim NDR Kultur Sachbuchpreis im Jahr 2009. Die Forschungsarbeit unterbricht der Autor immer wieder mal für einen Roman. Literatur sei seine erste Liebe, sagt er. Der Unterschied zwischen einem Schriftsteller und einem Historiker ist für ihn auch nicht so groß: "Es geht immer darum, Geschichten zu erzählen. Geschichten zu erzählen über Menschen. Der einzige Unterschied ist für mich, dass ich bei den Sachbüchern nichts hinzuerfinde und bei den Romanen versuche, dieselbe Art von menschlicher Wahrheit durch kunstvolles Lügen zu erreichen", bekennt der Autor.
29.07.2016 - Claudia Campagna

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"Wir stehen am Ende von 3.000 Jahren Kulturgeschichte"

18.5.2021

Humanistischer Pressedienst - 31.03.2021 - Florian Chefai

Bei der globalen Klimakatastrophe steht nicht weniger als der Fortbestand der menschlichen Zivilisation auf dem Spiel, schreibt der Philosoph und Historiker Philipp Blom in seinem neuen Essay "Das große Welttheater". Im Interview erklärt er, wieso wir nur überleben werden, wenn wir uns nicht länger als "Krone der Schöpfung" verstehen, sondern als eine Primatenart, die vom Aussterben bedroht ist.


hpd:  Sie haben sich in Ihren früheren Werken hauptsächlich mit den Umbrüchen vergangener Zeiten auseinandergesetzt. Inzwischen widmen Sie sich auch den gesellschaftlichen Entwicklungen unserer Zeit. Woran liegt es, dass Sie sich als Historiker nun verstärkt mit der Gegenwart beschäftigen?

Philipp Blom:  Für einen Historiker gibt es keine großartigere Zeit zu leben als jetzt. Wir leben nämlich in einer Zeit, in der eine historische Epoche endet und eine neue beginnt. Einen solchen Umbruch selbst zu erfahren und zu studieren, ist für mich als Historiker überaus faszinierend. Es geht bei Geschichte ja nicht darum, wann welcher Kaiser auf welchem Thron saß, sondern vielmehr um gesellschaftliche Strukturen, um das Bestehen von Kräfteverhältnissen und von intellektuellen Konstellationen. Diese analytische Perspektive kann man auch auf heute anwenden, um die gegenwärtigen Entwicklungen zu verstehen. Als Mensch finde ich unsere Zeit zugleich sehr beängstigend. Schließlich lebe ich in ihr und muss die Luft um mich herum atmen. Durch meine Bücher versuche ich, Menschen zu erreichen und zumindest einen kleinen Beitrag zu aktuellen Diskursen wie dem Klimawandel zu leisten. Die Welt ist zu spannend, um tatenlos bei ihrer Zerstörung zuzusehen. Und ich bin noch zu jung, um mich einfach zurückzulehnen und Wein zu trinken. Dabei mache ich mir allerdings keine Illussionen, dass wir individuell die Geschichte so beeinflussen könnten, dass auf einmal alles anders wird.

Wo finden heute konkret Umbrüche statt und was sind die großen Scheidepunkte unserer Zeit?

Der große Scheidepunkt unserer Zeit ist die Klimakatastrophe. Wir stehen vor einer Kaskade von katastrophalen Entwicklungen, die daraus herrühren, dass wir immer tiefer in die Natur eingreifen. Dabei geht es nicht um die paternalistische Vorstellung, dass wir als Menschen den Planeten zerstören. Selbst wenn wir die Biodiversität dramatisch reduzieren und uns damit selbst von diesem Planeten eliminieren, wird es nämlich nur ein paar tausend Jahre dauern, bis die Erde wieder blüht und gedeiht – nur eben ohne uns. Entscheidend ist also vielmehr, die Möglichkeit dafür zu schaffen, weiterhin auf diesem Planeten überleben zu können. Nicht im erbitterten Kampf um Ressourcen, sondern als zivilisierte Menschen, die versuchen, die Welt etwas besser zu hinterlassen, als sie sie selbst vorgefunden haben. Das Ganze wird nicht einfach sein. Es ist eine existenzielle Herausforderung von historischem Ausmaß, die wir derzeit noch noch nicht ausreichend ernst nehmen.

Bisher wurde nicht wirklich etwas unternommen, was einen echten Wandel herbeiführen könnte. Meinen Sie, dass wir das Ruder noch herumreißen können?

Ich bin kein Prophet, sondern Historiker. Ob wir diese Herausforderung meistern werden, kann ich nicht sagen. Im Moment sieht es jedenfalls nicht gut aus. Weder bei den wissenschaftlichen Fakten noch bei der demokratischen Meinungsbildung. Die Klimatastrophe ist ein globales Problem, das nur global gelöst werden kann. Es hätte daher keinen Sinn, wenn Deutschland morgen eine CO2-freie Wirtschaft hat, solange in anderen Regionen der Welt unvorstellbar große Flächen der Regenwälder gerodet werden. Vor der Corona-Pandemie waren es weltweit 30 Fußballfelder Regenwald pro Minute, die verschwinden. Das ist erschreckend und macht deutlich, wie wenig Zeit uns noch bleibt.

Sie gehen davon aus, dass das menschliche Handeln von Ideen und Narrativen geleitet wird. Welche Einstellungen hindern uns daran, verantwortungsvoll mit unserer Umwelt umzugehen?

Darauf gibt es eine Kurzzeit- und eine Langzeitantwort. Die Kurzzeitantwort ist der allmächtige Markt, der völlig außer Kontrolle geratene Hyperkapitalismus. Womit ich nicht meine, dass Märkte an sich schlecht sind oder der Kapitalismus an sich böse ist. Ein Markt kann beispielsweise die Demokratie fördern, weil er eine pragmatische Toleranz verlangt. Für das Geschäft ist es nämlich erst einmal egal, welche privaten Ansichten jemand hat oder welche sexuelle Präferenzen er besitzt, solange Verträge eingehalten werden. Markt und Kapitalismus sind aber nur dann konstruktiv, wenn sie ein Teil der Gesellschaft sind, welche damit Ziele realisiert, die sie sonst nicht realisieren könnte. Bei der Corona-Pandemie haben wir nun sehr deutlich gesehen, dass der Markt auf bestimmte Probleme keine Antworten hat. So haben Marktmechanismen etwa bei der Bereitstellung von mediznischer Ausrüstung versagt. Und wir haben deutlich gesehen, dass die Prioritäten des Marktes nicht zwangsläufig die Prioritäten einer Gesellschaft sein müssen. Deshalb haben wir uns auch dafür entschieden, alte Menschen zu schützen, die nicht ökonomisch produktiv sind und die den Staat Geld kosten. Als Gesellschaft haben wir aus guten Gründen völlig marktunkonform gehandelt. Die Idee des ewigen Wirtschaftswachstums und der allumfassenden Profitabilität ist eine Idee, die uns auch in Bezug auf die Klimaktastrophe die Sicht versperrt. Der Markt kann hier durchaus eine Rolle bei der Lösung des Problems spielen, doch er wird mit seinen eigenen Prioritäten keinesfalls ein Erlöser sein, der die Bedürfnisse der Menschen ausreichend berücksichtigt.

Und die Langzeitantwort?

Die führt uns etwas weiter zurück auf die biblische Idee "Macht euch die Erde untertan". Sie geht davon aus, dass der Mensch die "Krone der Schöpfung" sei, die sich frei an der Natur als Materiallager bedienen kann. Das war lange Zeit eine konstruktive Idee, weil sie dazu geführt hat, dass Gesellschaften über sich selbst hinausgewachsen sind. Zumindest in Europa hat diese Idee so lange funktioniert, bis Erdöl im großen Stil verwendet wurde. Seitdem sind Produktivität, Wohlstand und damit auch der Konsum dramatisch angestiegen. Dies führte zwar zu einem enormen zivilisatorischen Fortschritt, zugleich aber auch zu einer zunehmenden Ausbeutung der Natur. Während sie anfangs lokal begrenzt und reversibel war, beschleunigte sie sich im Laufe der Zeit so enorm, dass dadurch die Lebensgrundlage unserer Spezies untergraben wird. Nicht in einigen Jahrhunderten, sondern in wenigen Jahrzehnten könnte dies zu einem katastrophalen Kollaps der menschlichen Zivilisation führen. Insofern kann man durchaus sagen, dass wir heute am Ende von 3.000 Jahren Kulturgeschichte stehen. Wir werden nämlich nur dann überleben, wenn wir unseren Platz innerhalb der Natur finden. Nicht als "Krone der Schöpfung", sondern als eine Primatenart, die vom Aussterben bedroht ist.

Unser derzeitiger Umgang mit der Natur folgt eher dem Motto "Nach uns die Sintflut". Der Glaube an eine bessere Zukunft scheint verloren gegangen zu sein...
Das ist eine sehr gefährliche Idee. Hinter ihr steht eine Ausverkaufsmentalität, die sich zwar in einer komfortablen Gegenwart wähnt, aber keine Perspektive für eine Zukunft hat, in der es sich zu leben lohnt. Für Gesellschaften ist diese Haltung zerstörerisch. Wenn es für Menschen keine rationale Hoffnung mehr gibt, werden sie leicht zynisch und laufen Bauernfängern hinterher.

Der Soziologe Zygmunt Baumann sprach in diesem Zusammenhang einmal von "Retrotopie". Die Idee des Fortschritts verheiße heute weniger die Aussicht auf eine Verbesserung der persönlichen Lage als die Angst davor, abgehängt und zurückgelassen zu werden. Daher würden sich viele von der Zukunft abwenden und sich nach der Rückkehr einer verklärten Vergangenheit sehnen. Es ist gewissermaßen die Hoffnung, dass es wieder so wird, wie es niemals war.

Ja, so ist das. Wie die Welt eigentlich zu sein hat und was normal ist, wird in den allermeisten Fällen durch die Kindheit definiert. Lange Zeit waren das aus verständlichen biografischen Gründen die Fünfzigerjahre. Zufälligerweise sind wir alle aber zu unterschiedlichen Zeitpunkten Kinder gewesen. Die verschiedenen Vorstellungen von dem, was als "normal" anzusehen ist, sind deshalb mit Konflikten verbunden, auch weil es keine gemeinsame Vision einer vernünftigen Zukunft zu geben scheint.

Dabei gäbe es doch gute Gründe, sich der Zukunft nicht zu verschließen, sondern aufgeschlossen zuzuwenden. Die Welt, in der wir heute leben, ist zu einer der friedlichsten in der Menschheitsgeschichte geworden. In rasantem Tempo wurden zivilisatorische Fortschritte erzielt, die vor hundert Jahren noch undenkbar gewesen wären. Hunger, Gewalt, Analphabetismus und Kindersterblichkeit sind laut den Statistiken in den vergangengen Jahrhunderten deutlich gesunken.

Solche Zahlenspiele, die immer wieder angestellt werden, sind sehr problematisch. Wenn man beispielsweise sagt, dass es im 20. Jahrhundert viel weniger Gewalt gegeben hat, ist das sicher zutreffend für Menschen, die in Südamerika gelebt haben. Nicht zutreffend ist es für Menschen, die in Litauen, Polen oder Kambodscha gelebt haben. Kumulativ mag es positive Entwicklungen gegeben haben. Aber sie beruhen im Prinzip darauf, dass wir eine Wirtschaft haben, die die Grundlagen unseres Überlebens untergräbt und die wir deshalb nicht weiterführen können. Entweder endet sie in einer Katastrophe oder wir müssen sie in etwas überführen, das Bestand haben wird.

Wodurch würde ein sich ein nachhaltiges Wirtschaften auszeichnen?

Notwendig wäre ein radikaler  Green New Deal , der über die kosmetischen Maßnahmen hinausgeht, die derzeit von Politikern beschlossen werden. Ein ambitioniertes Ziel wäre es, dass ganz Europa durch grüne Energie in höchstens 20 Jahren CO2-neutral sein muss. Man würde damit  en passant  auch die Technologie und Expertise erhalten, die demnächst überall auf der Welt gebraucht werden. In nicht weit entfernter Zukunft wird dies ein massiver Wettbewerbsvorteil sein. Es kann jedenfalls nicht nur darum gehen, bloß eine CO2-Steuer einzuführen. Denn wenn Menschen solche Maßnahmen nicht mit ihrem Willen unterstützen, werden sie die betreffenden Regierungen abwählen oder die Vorgaben ignorieren. Hinzu kommt, dass Unternehmen inzwischen eine größere und flexiblere Macht haben, weil sie sich nicht in einem abgegrenzten Territorium bewegen. Sie können damit drohen, einen Produktionsstandort in ein anderes Land zu verlagern, was zu höherer Arbeitslosigkeit führt. Dadurch wird die Handlungsfähigkeit eines Staates sehr stark ausgehebelt. Legislativ lässt sich das Problem daher letztlich nur auf internationalem Niveau lösen.

Was fehlt, damit Menschen den erforderlichen Willen aufbringen, verantwortungsvoll zu handeln?

Es bräuchte ein neues Selbstverständnis, das an die Überlegungen der Aufklärung anschließt. Denn die Aufklärung forderte nicht nur Rationalität und Menschenrechte, sondern versuchte den Menschen auch als Teil der Natur zu verstehen. Aufklärerische Wissenschaftler des 18. Jahrhunderts wie Comte de Buffon beschrieben den Menschen zum ersten Mal in seiner frappierenden Ähnlichkeit zu Primaten. Schon vor Darwin erstellten sie Stammbäume der Entwicklungsgeschichte, die den Menschen als biologisches Wesen in der Natur statuierten. Diesen realistischen Ansatz gilt es heute weiterzudenken. Der Philosoph Bruno Latour erkannte einmal richtig, dass wir nicht auf der Erde, sondern in der kritischen Zone leben – also der winzigen Membran zwischen dem toten Gestein unter unseren Füßen und der ewigen Leere über unseren Köpfen. Unsere Atmosphäre wird dabei konstituiert und beinflusst durch unendlich viele Faktoren, von Mikroben über Jetstreams bis hin zu menschlicher Gesetzgebung. Wenn wir unsere Verwobenheit mit dem Rest der Natur endlich anerkennen würden, wäre das der Anfang eines lohnenden Menschenbildes. Mit ihm würde man Abstand von der Vorstellung nehmen, dass wir die Natur beherrschen und ausbeuten können. Es wäre die Voraussetzung dafür, den wissenschaftlichen, politischen und legislativen Klimaschutz-Initiativen ein echtes Wollen zur Seite zu stellen.

Viele Menschen empfinden es als Kränkung, sich selbst als Naturwesen oder gar als Primaten anzusehen. Warum fällt es uns so schwer, unser Welt- und Menschenbild trotz besseren Wissens radikal in Frage zu stellen?

Wir sind nunmal alle Kinder unserer Zeit. Es ist enorm schwierig, etwas zu denken und zu vertreten, was die Menschen um einen herum nicht denken – insbesondere wenn man sie schätzt, respektiert und liebt. Weil das so schwierig ist, ist es natürlich sehr viel einfacher, etwas zu vertreten, was sich auf gewohnte Strukturen stützt. Den eigenen Gedanken dorthin zu folgen, wo man ihnen eigentlich nicht hinfolgen möchte, ist vielleicht eine der größten Herausforderungen. Denn dort werden Ansichten in Frage gestellt, die einem viel bedeuten. Es ist daher wichtig, neue Erfahrungen zu machen und aus ihnen heraus zu versuchen, neue Erklärungsmuster zu suchen. So entstehen Risse im alten Weltbild, durch die etwas Licht eindringen kann.

Kann die Corona-Krise als eine neue Erfahrung gesehen werden, aus der wir lernen können?

Es wäre illusionär zu meinen, dass wir als Gesellschaft nun geläutert aus dieser Krise hervorgehen werden. Allerdings hat sie immerhin eines gezeigt: Früher haben die Kritiker des entfesselten Neoliberalismus immer wieder zu hören bekommen, dass das ungebremste Wirtschaftswachstum eine notwendige Voraussetzung für Demokratie und Freiheit sei. Angeblich sei es unmöglich, diese Maschine anzuhalten, ohne dass eine Katastrophe mit verheerenden Konsequenzen eintritt. Aber dann ist genau das passiert. Gesellschaften haben entschieden, ihre eigenen Interessen über Marktinteressen zu stellen. Man darf natürlich nicht beschönigen, dass diese Entscheidung eine massive Wirtschaftskrise nach sich gezogen hat, bei der viele menschliche Existenzen gefährdet und vernichtet wurden. Damit verbunden war jedoch auch das theoretische und praktische Verstehen davon, dass Dinge auch anders laufen können als bisher. Es wurde deutlich, dass Gesellschaften doch noch Kontrolle darüber haben, wie sie leben wollen. Das hat einen Präzendenzfall geschaffen, der in folgenden Diskussionen über die nächsten Jahrzehnte nicht mehr wegzureden ist. Ob daraus rechtzeitig die richtigen Schlüsse gezogen werden, können wir jetzt noch nicht sagen. Sicher ist jedoch, dass sich dieser Präzendenzfall als sehr wichtig erweisen wird.

Vor allem die Wissenschaft hat im Zuge der Pandemie verlorenes Vertrauen in der Bevölkerung zurückgewonnen.

Ich bin mir nicht sicher, ob der Vertrauenszuwachs tatsächlich so groß ist, wie wir das gerade gerne glauben. Aus der Dringlichkeit des Moments heraus wurde die Wissenschaft auf einmal das stärkste Entscheidungskriterium für die Politik, auch weil sie unmittelbare Resultate lieferte. Deutlich wurde jedenfalls, dass die Leugnung wissenschaftlicher Tatsachen nicht weiterhilft. In Ghana gab es beispielsweise einen Pfarrer, der Covid-19 durch Handauflegen heilen wollte und leider selbst an der Krankheit gestorben ist. Da waren Ursache und Konsequenz unmittelbar sichtbar, ebenso wie die zutreffenden Prognosen von Wissenschaftlern. Wenn es aber darum geht, politische Prioritäten zu setzen, geht es nicht mehr primär um wissenschaftliche Wahrheiten, sondern um Interessen und Prinzipien. Der Prozess der Entscheidungsfindung wird dadurch wieder wesentlich politisiert. Es gibt viele Menschen, die von Grund auf leugnen, dass es überhaupt eine Pandemie gibt und die allen möglichen Verschwörungstheorien hinterherlaufen. Ich glaube daher nicht, dass wir nun in eine Zeit gekommen sind, in der Menschen endlich die Wissenschaft akzeptieren. Denn letztlich wird sich nicht die wissenschaftlich sauberste und logischste Position durchsetzen, sondern diejenige, die am meisten emotionale Resonanz bereithält.
Die Fragen stellte Florian Chefai für den  hpd .

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Historiker Philipp Blom über Notre Dame: „Dinge gehen verloren“

18.4.2019

profil.at - 18.04.2019 - Robert Treichler

Der Historiker und Bestsellerautor Philipp Blom über die Bedeutung der Kathedrale von Notre-Dame, den Streit um die christlicheIdentität Europas und die Frage, was der Brand uns für denUmgang mit historischen Bauten lehrt.

Interview: Robert Treichler

profil: Wie haben Sie von dem Brand von Notre-Dame erfahren?

Blom: Ich war in einem Hotel in den Südtiroler Alpen und telefonierte gerade mit einem Freund. Nebenbei lief der Fernseher, und plötzlich sah ich, dass Notre-Dame in Flammen stand. Da fiel mir der Moment ein, als ich am 11. September 2001 in Paris ankam und ebenfalls im Fernsehen sah, dass das World Trade Center brannte. Aber Gott sei Dank ist das ein irreführender Vergleich.

profil: Sie haben selbst eine Zeit lang in Paris gelebt. Wie sehr trifft Sie dieser Verlust?

Blom: Natürlich trifft mich das – Notre-Dame ist ein so starkes Symbol. Auf der anderen Seite gehört es zur Geschichte, dass Dinge auch verloren gehen. Wir sind eine Kultur, die glaubt, alles konservieren und restaurieren und genau so erhalten zu können, wie es einmal war. Dieser Brand erinnert uns daran, dass wir gegenüber den Ereignissen nicht so mächtig sind, wie wir vielleicht denken.

profil: Ist Notre-Dame mehr als eine Kirche?

Blom: Kulturhistorisch selbstverständlich. Es ist der Ort, an dem sich Napoleon selbst die Krone aufs Haupt setzte. Es ist der zentrale Ort von Paris. Der Platz vor der Kathedrale hat große symbolische Bedeutung. Ein Indiz dafür ist die Tatsache, dass er als Nullpunkt diente, von dem aus in Frankreich alle Distanzen gemessen wurden, etwa die Autobahnen. Das war das historische Herzstück von Paris und ist es bis heute – ein großer Orientierungspunkt.

profil: Momentan gibt es einen Konflikt darum, wie dieser Brand und das Gebäude interpretiert werden sollen. Er spielt sich vor dem Hintergrund der Debatte um die Identität Europas ab: Wie christlich ist dieser Kontinent noch, symbolisiert die teilweise Zerstörung von Notre-Dame die Demontage der letzten christlichen Bollwerke?

Blom: Was heißt christliches Bollwerk? Die katholische Kirche ist im französischen Staat kein Machtfaktor mehr, die von Notre-Dame aus die Geschicke Frankreichs lenken würde – das ist vorbei. Dass eine große Kirche als Sammelpunkt für viele Christen, manchmal auch für sehr konservative Christen dient, ist verständlich. Für mich ist es eher ein Ort von großer historischer Bedeutung, auch von großer musikalischer Bedeutung. Eine der wichtigsten Orgeln von Europa steht darin. Natürlich war Europa über Jahrhunderte hinweg ein hauptsächlich christlicher Kontinent, und die wesentlichen Sakralbauten sind christliche Sakralbauten. Das kann man ganz gelassen aus der Geschichte erklären, ohne daraus ein Politikum zu machen.

profil: Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron hat vor allem auf die einigende Wirkung gesetzt und nicht so sehr Notre-Dame als Kathedrale der Christen in den Vordergrund gestellt, sondern als Kathedrale für die ganze Nation. Das hatte fast etwas Überkonfessionelles, auch für Atheisten.

Blom: Ich bin selbst Atheist und somit nie als gläubiger Mensch in diese Kirche gegangen. Religiös hat sie für mich persönlich keine Bedeutung. Aber als Ausdruck einer Etappe von europäischer Identität, die allerdings auch nie so einfach gestrickt war, wie das manche Leute gerne hätten – weder religiös noch ethnisch –, sondern die immer schon komplex war, ist die Kathedrale eines der wichtigsten Elemente, die wir haben. Aber das kann man als moderne Nation auch gemeinsam erleben: Es ist eben nicht nur das Symbol einer Glaubensgemeinschaft, sondern gerade in einem laizistischen Staat wie Frankreich ein Symbol einer nationalen Gemeinschaft.

profil: In der herrschenden politischen Stimmungslage wird oft der Gegensatz zwischen Christen und Muslimen betont – so auch jetzt.

Blom: Ich weiß nicht, inwieweit sich Muslime, die in Frankreich leben, mit Notre-Dame identifizieren, aber ich glaube, jeder Mensch, dem Kulturgeschichte und ihre Weiterentwicklung etwas bedeuten, spürt angesichts der Zerstörung etwas. Die Debatte stellt auch nur eine Etappe im Zuge des Umdefinierens unserer Identitäten dar – weg von engen religiösen Bindungen, hin zu einer anderen Art von Gemeinschaft. Man kann die Debatte auch als ein Symptom für diesen Prozess sehen.

profil: Es gibt Vorwürfe, manche Muslime hätten sich gefreut, dass Notre-Dame brannte.

Blom: Es wird schon einige Deppen geben, die sich darüber freuen. In Algerien etwa haben die Menschen so massiv unter dem französischen Staat gelitten, dass sie ambivalente Gefühle dazu haben können, wenn sie Notre-Dame als Symbol dieses Staates und seiner Macht sehen. Aber man wird immer jemanden finden, der sich unangemessen äußert. Wenn es nur darum geht, so jemanden aufzuspüren, um eine Kontroverse loszutreten, dann ist das sehr kurzsichtig. Natürlich gibt es hämische Reaktionen, aber die meisten Menschen sehen Notre-Dame als Symbol eines Frankreich, das einmal war, und vielleicht als Symbol eines Frankreich, das im Begriff ist, sich umzudeuten.

profil: Frankreich als laizistischer Staat hat in Bezug auf Notre-Dame eine sehr bewegte Geschichte. Die Begräbnisfeiern von Staatspräsidenten wie Charles de Gaulle oder François Mitterrand fanden hier statt. Frankreich hat sich also nie ganz von seinem christlichen Fundament gelöst.

Blom: Wie löst sich ein Staat von mächtigen Symbolen? Frankreich versuchte es stärker als andere westeuropäische Länder. Notre-Dame ist wie jede anständige Kirche auf einem Tempel gebaut, der anderen Göttern geweiht war, weil auch diese Kirche die Aufgeladenheit und die symbolische Wirkung dieses Ortes nutzen wollte. Und vielleicht ist es nur klug, diese symbolische Wirkung weiter zu nutzen, denn man kann sie ja nicht einfach verschwinden lassen.

profil: Auch das wurde versucht, zur Zeit der Französischen Revolution, als die Kirche entweiht und zu einem „Tempel der Vernunft“ umgedeutet wurde. Man wollte alles Religiöse eliminieren.

Blom: Das hat nicht geklappt, weil es ein sehr enges Verständnis dessen war, was Menschen ausmacht.

profil: Auch auf ökonomischer Ebene entfaltet das Unglück möglicherweise eine einigende Wirkung. Nachdem Macron versprochen hat, der Staat werde Notre-Dame wieder aufbauen, und dafür die Bevölkerung um Mithilfe bat, meldeten sich sofort die Superreichen und kündigten Spenden in Höhe von 700 Millionen Euro an.

Blom: So viel schon?

profil: Der Milliardär François-Henri Pinault versprach, über die Familien-Holding 100 Millionen bereitzustellen. Die Milliardärsfamilie Arnault sagte 200 Millionen zu, weitere 200 Millionen kommen von der L’Oréal-Eigentümerfamilie Bettencourt- Meyers. Die Reichen betreiben offenbar Wiedergutmachung für die von der Regierung gestrichene Vermögenssteuer.

Blom: Eine extrem elegante Weise, das zu handhaben.

profil: Hätte man vor dem Brand gesagt, wie ungeheuer bedeutsam die Kathedrale von Notre-Dame für Europa ist, wäre man wohl als allzu konservativer Zeitgenosse dagestanden. Jetzt, von diesem emotionalen Ereignis bewegt, sind sich fast alle einig darüber, wie fundamental wichtig diese Kirche für uns alle ist. Braucht es starke Momente, um sich dieser Dinge bewusst zu werden und es auch sagen zu können?

Blom: Das ist sicherlich so, gerade weil Notre-Dame ein so starkes Symbol ist und weil wir uns in einer Phase unserer gemeinsamen Geschichte befinden, in der Symbole umgedeutet werden. Notre-Dame wurde in erster Linie zu einer Touristenattraktion; nur eine kleine Minderheit ging hin, weil die Kirche für sie ein spirituelles Zentrum war. Es ist ein ambivalenter und auch schmerzhafter Prozess, zu sehen, wie etwas so Bedeutsames zum Entertainment herabgewürdigt werden konnte. Wenn es dann brennt und man die Bilder von tragischer Schönheit sieht, wird einem diese Ambivalenz deutlich: dass irgendetwas unwiederbringlich verloren ist – nicht nur gotische Schnitzereien und Rosettenfenster, sondern eine gewisse symbolische Kraft, die dieser Ort für ein Kollektiv hatte und die er nun nicht mehr auf dieselbe Weise beanspruchen kann. Das ist eine schwierige, ambivalente, aber notwendige Entwicklung, denn solche Orte waren und sind auch immer Symbole von Unterdrückung. Wir erleben heute, dass wir sie umdeuten müssen und dass sie uns oft abhandenkommen, und das, glaube ich, hat dieser Brand so stark symbolisiert.

profil: Notre-Dame war mit dem Pogrom an Protestanten in der Bartholomäusnacht von 1527 assoziiert – einer der schaurigen Aspekte in der Geschichte dieser Kathedrale.

Blom: Macht bringt immer auch schreckliche Dinge hervor, und die katholische Kirche hatte sehr viel Macht. Natürlich sind sehr verschiedene Dinge mit der Geschichte dieses Ortes verbunden. Die meisten Menschen sehen heute die bauliche Schönheit, oder sie gehen hin, weil in den Touristenführern steht, dass man hingehen soll. Aber um die Geschichte eines solchen Ortes zu verstehen, braucht es mehr, vor allem auch ein gesundes Verständnis für Ambivalenz.

profil: Wird Notre-Dame nach seinem Wiederaufbau als symbolischer Ort wieder so sein können, wie er war?

Blom: Es wird Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern, bis die Renovierungsarbeiten vollständig abgeschlossen sein werden. Man wird sich bemühen, die Restauration perfekt zu gestalten; vielleicht wird man auch zeitgenössische Elemente einbauen, um den Bruch deutlich zu machen. Natürlich wird es dann ein anderer Ort sein. Aber solche Unglücke sind immer passiert. Die Idee, dass man ein Gebäude in einem Originalzustand erhalten kann, ist eine Illusion – abgesehen davon, dass es eine höchst fragwürdige Vorstellung ist: Welcher Originalzustand ist denn gemeint? Im Zustand welchen Jahrhunderts will man diese Kirche haben, die so oft umgebaut, renoviert und auch verschandelt wurde? Ein solcher Ort ist auch ein lebender Ort, der sich immer verändert, für den es deshalb auch keinen authentischen Zustand gibt. Wenn man einen authentischen Zustand sucht, dann müsste es ein Zustand sein, der die ganze Geschichte dieses Ortes reflektiert. Und so wie über Jahrhunderte hinweg Fresken gemalt und übertüncht, Skulpturen hergestellt und dann wieder abgehackt wurden, so hat dieser Ort nun ein neues, sehr einschneidendes Kapitel in seiner Geschichte erlebt. Ich halte es für ein wichtiges Symbol, dass wir die Dinge nicht so erhalten können, wie wir meinen, dass sie sein sollen: dass es dieses touristische oder meinetwegen auch das authentisch-spirituelle Europa, in Kunstglas gegossen, einfach nicht geben kann, sondern dass es sich weiterentwickelt.

profil: Gelegentlich auf brutale Weise.

Blom: Ja, all das ist lebendige Geschichte, von der wir auch ein Teil sind. Die Änderungen betreffen nicht nur die Widmung dieser Orte und den spirituellen Sinn, sondern auch die bauliche Substanz und die Menschen, die hingehen, und die Gründe, aus denen sie hingehen. Das alles kann man nicht einfach festhalten und entscheiden, welcher der Idealzustand ist, in dem man es bewahren will.

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Die Geburt der Moderne aus dem Schoß des Klimawandels?

26.3.2017

Dagmar Roehrlich | Deutschlandfunk

Legte ein Klimawandel den Grundstein der modernen Gesellschaft?, fragt der Historiker und Philosoph Philipp Blom in seiner "Geschichte der "Kleinen Eiszeit von 1570 bis 1700." Und findet darin zwar monokausale, aber durchaus interessante Antworten.

Die Winter waren lang, die Sommer kurz und kühl: Vor allem im 17. Jahrhundert stürzte das Klima Europa in eine Krise. Was damals passierte, vermittelt eine erste Vorstellung davon, was der menschengemachte Klimawandel in unserer Zukunft auslösen kann. Für Philip Blom ein Grund, sich diese Zeit einmal näher anzusehen.

Schon die geradezu barock anmutende Titellänge versetzt den Leser zurück in die Zeit, die der Historiker und Philosoph Philipp Bloom analysiert: "Die Welt aus den Angeln - Eine Geschichte der Kleinen Eiszeit von 1570 bis 1700 sowie der Entstehung der modernen Welt, verbunden mit einigen Überlegungen zum Klima der Gegenwart". Und das Titelbild tut ein übriges: Eine Winterlandschaft von Hendrick Avercamp, die während der Kleinen Eiszeit entstand. Philipp Blom konzentriert sich auf die Zeitspanne von 1570 und 1700. Es war die kälteste Phase der "Kleinen Eiszeit", die insgesamt 400 Jahre dauerte. Die Durchschnittstemperatur in Europa stürzte um zwei Grad ab, und das Wetter spielte verrückt: Manchmal regnete es wochenlang, mal herrschte Dürre, der Frühling schien ewig auf sich warten zu lassen, und die Sommer waren kraftlos und kurz. Einzig auf den Winter war Verlass: In London konnten Frostjahrmärkte auf der gefrorenen Themse stattfinden, und in Paris wachte König Heinrich IV. mit vereistem Bart auf.

Für die Menschen waren es harte Jahrzehnte: Der 30-jährige Krieg tobte, die Pest wütete, es gab Missernten und Hungersnöte. Es war eine Zeit, in der Weltuntergangsphantasien bizarre Blüten trieben und die Welt aus dem Lot geraten zu sein schien. Hilflos und voller Angst erlebten die Menschen Veränderungen, für die sie keine Erklärung hatten.

Zu Beginn wurden die Naturereignisse als Ausdruck göttlichen Zorns wahrgenommen. Und die Lösung, erklärt der Autor, sie lag in Buße, Reue, Umkehr - und Hexenverbrennungen. Doch mit der Zeit nutzte sich der Gotteszorn als Erklärung ab. Im Lauf des 17. Jahrhunderts begannen die Menschen, die Ursachen für ihr Unglück in der Natur zu suchen. In diese Zeit fällt der Ursprung der modernen Wissenschaften. Mit Experimenten versuchten die Gelehrten, neue Wege zu beschreiten, Wissen zu erlangen, neue Techniken zu entwickeln, neue Geräte, bessere Anbaumethoden. Diese "eherne" Zeit, so analysiert Blom, veränderte sich die europäische Gesellschaft grundlegend. Nichts blieb, wie es war: weder die Wirtschaft, noch die politische Ordnung, die Kultur oder die Philosophie.

Schließt sich da gerade ein Kreis?


Legte ein Klimawandel den Grundstein der modernen Gesellschaft? Damals, so argumentiert der Autor, legte der Klimawandel die Basis für den Aufschwung des globalen Handels, für die Anfänge des modernen Staats, den Kolonialismus, die Strategie des Wachstums durch Ausbeutung. Eine vielleicht zu monokausale, aber durchaus interessante Sicht. Die Moderne als Produkt der Kleinen Eiszeit? Darüber lässt sich streiten. Und dann fragt sich Blom, ob sich nicht gerade ein Kreis schließt. Die durch den Kälteschock entwickelten Konzepte, glaubt er, stoßen an ihre Grenzen, verursachen die nächste Krise, den menschengemachten Klimawandel. Auch der werde die Gesellschaften verändern. Ob katastrophal oder zum Besseren, das zu steuern, dazu bleibe nur noch wenig Zeit.

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http://www.deutschlandfunk.de/philipp-blom-die-welt-aus-den-angeln-die-geburt-der-moderne.740.de.html?dram:article_id=382293

Alpbach-Dialoge: Auf die Resonanz kommt es an!

20.9.2018

Wiener Konzerthaus, 20. September 2018

Am Podium

  • Matthias Naske, Direktor des Wiener Konzerthause
  • Hartmut Rosa, Soziologe und Politikwissenschaftler
  • Philipp Blom, Moderation


Ein Merkmal der Gegenwart ist das Bestreben, die Welt berechnend und kontrollierbar zu machen. In Kombination mit der auf Effektivität und Effizienz ausgerichteten Steigerungslogik in vielen Lebensbereichen führt das zu einem Gefühl der Schnelllebigkeit und der Entfremdung. Liegt eine Lösung für dieses die Moderne begleitenden Dilemma in der Verlangsamung? Der deutsche Soziologe Hartmut Rosa stellt dies in Frage und rückt den Begriff der Resonanz in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit. Als Resonanz bezeichnet er eine Art des In-Beziehung-Tretens des Menschen mit der Welt und postuliert, dass Lebendigkeit aus der Akzeptanz des Unverfügbaren entsteht. Der Mensch tritt mit den ihn umgebenden, die Welt konstituierenden Dingen in Dialog, gerät mit seinem Gegenüber in Schwingung, nimmt wahr und spürt die Lebendigkeit der Welt und seiner selbst. Resonanzräume zu schaffen, welche diese Erfahrung zulassen und die nötige Vertrautheit, Offenheit und Angstfreiheit bieten, um Resonanzerfahrung möglich zu machen, sind Voraussetzung für ein gelingendes Miteinander.
Der Intendant des Wiener Konzerthauses Matthias Naske und Hartmut Rosa diskutierten am 20. September 2018 im Wiener Konzerthaus unter der Moderation von Philipp Blom über die Rolle der Resonanz in unserer Gesellschaft und darüber, welchen Beitrag Räume des gemeinsamen Wahrnehmens von Musik und von künstlerischen Prozessen dabei leisten können.

» Audio anhören: Alpbach-Dialoge: Auf die Resonanz kommt es an!
 

Es war einmal . . . die Zukunft

26.8.2017

Tagesanzeiger.ch - 25.08.2017 -Martin Ebel

Ein Historiker mahnt, dass die Gegenwart, wie wir sie gestalten, keine Zukunft hat. Am Ende bleibt laut Philipp Bloms Streitschrift «Was auf dem Spiel steht» nur noch das Prinzip Hoffnung.

Es braucht eine gewaltige, gemeinsame gesellschaftliche Anstrengung. An diesem Punkt seiner Argumentation muss der Historiker zum Visionär werden und das Prinzip Hoffnung die Analyse ablösen. Für den radikalen Bruch, den Blom für nötig hält, bedarf es eines ordentlichen Schusses Magie. Das führt zu einem Bruch auch in dem Buch «Was auf dem Spiel steht».

» mehr: https://www.tagesanzeiger.ch/kultur/buecher/Es-war-einmal----die-Zukunft/story/17917253

Erasmus EuroMedia Award geht an "Universum History: der taumelnde Kontinent"

10.12.2014

"Der taumelnde Kontinent" wurde mit einem Special Award "for Outstanding Documentary in Duty of Critical Assessment of European History" ausgezeichnet.

Basierend auf dem gleichnamigen preisgekrönten Buch von Philipp Blom führt der von der ORF-TV-Kultur koproduzierte Zweiteiler, den der ORF zum Auftakt des großen Programmschwerpunkts zu 100 Jahre Erster Weltkrieg gezeigt hat, auf eine Reise in das Europa zwischen 1900 und 1914, das voller Aufbrüche und moderner Entwicklungen war, die jedoch durch die Folgen des Attentats von Sarajevo für Jahrzehnte gestoppt werden sollten.

"Der taumelnde Kontinent" ist eine Produktion von DOR Film, ORF, ZDF/3sat und AUTENTIC, gefördert von Fernsehfonds Austria und Filmfonds Wien.

» OTS-Presseaussendung
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CRUDELITAS - Welche Rolle spielt die Grausamkeit in der Geschichte der Menschen?

28.3.2022

YouTube - Bruno Kreisky Forum - 28.03.2022 -

Philipp Blom im Gespräch mit Wolfgang Müller-Funk

Der Mensch »ist auch das grausame Tier«. Diese radikale These ist Ausgangspunkt einer Diskursgeschichte der Grausamkeit von Wolfgang Müller-Funk, die eben im Verlag Matthes & Seitz erschienen ist. Mit der Bestimmung der Grausamkeit als Teil des Zivilisierungsprozesses gelingt dem Kulturwissenschaftler ein erschütternder Blick auf einen Aspekt der menschlichen Evolution, den gängige Beschreibungen verschweigen: Das Experimentieren mit Möglichkeiten und die durch die Wortsprache bedingten Spielräume und Repräsentationsformen weisen zu völlig künstlichen Formen von Gewalt, die weder zufällig noch notwendig sind. Die unheimliche Attraktivität der Grausamkeit liegt dabei auch in ihrem zweifelhaften Versprechen ungehinderter Selbstbehauptung. In zwölf konzisen Kapiteln – zu Robert Musil und Ernst Jünger, Seneca und Friedrich Nietzsche, Elias Canetti und dem Marquis de Sade, Jean Améry und Mario Vargas Llosa, Sigmund Freud und Maurice Merleau-Ponty, Ismail Kadare und Arthur Koestler – straft Müller-Funks Studie Gottfried Benns Satz, dem zu Folge der liberale Mensch der Gewalt nicht ins Auge sehen kann, Lüge. Seine von der Literatur informierte Geschichte der Grausamkeit weist einen philosophischen Weg, ihren Verlockungen zu widerstehen.

In Kreiskys Wohnzimmer diskutiert Philipp Blom mit Wolfgang Müller-Funk über den erschreckenden Einfallsreichtum der Grausamkeit – und was sie uns über den Menschen lehrt.

"Freiheit ist immer eine Frage der Abwägung"

21.10.2015

» Gespräch auf deutschlandfunk.de anhören


Michael Köhler: Der Fall der Mauer 1989 war auch ein geschichtsphilosophisches Zeichen. Die Blockkonfrontation endete, die EU-Erweiterung begann, aber folgte auf den Kalten Krieg der ewige Frieden? Ein Miteinander ohne kriegerische Konflikte - mehr noch: ein postideologisches Zeitalter? Mit seiner Formel vom Ende der Geschichte legte der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama nahe, die liberalen Demokratien hätten gesiegt. Auf den Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten folge weltweit die Internationalisierung des Rechts, der Menschenrechte. Ich habe mit dem Wiener Historiker und Buchautor Philipp Blom darüber gesprochen, der viel gelobte Bücher über die kulturellen Bedingungen vor dem Ersten und Zweiten Weltkrieg geschrieben hat und ihn gefragt, was war das, diese These vom Ende der Geschichte? Eine Absage an den Totalitarismus?

Philipp Blom: Es war die triumphale Schlussfolgerung, die triumphale und leider falsche Schlussfolgerung, dass alle Menschen das eine wollen in ihrem Leben, nämlich in liberalen Gesellschaften sicher leben, und dass nur eine Gesellschaft das bereitstellen kann und dass deswegen alle Menschen und letztendlich alle Gesellschaften sozusagen magisch da hingezogen werden. Fukuyama sagte ja nicht, es wird nichts mehr passieren. Er meinte nur, die ideologische Schlacht zwischen der Sowjetunion und dem kapitalistischen Westen war geschlagen, China öffnete sich für erste demokratische zaghafte Tendenzen, es schien so, als würde jetzt wirklich sozusagen alles zwingend auf liberale Gesellschaften zugehen.

"Freiheit ist nicht neutral"

Köhler: War es die Absage an naiven Geschichtsfortschrittsglauben?

Blom: Ja, ich glaube, das ist ein wichtiger Punkt. Denn ich meine, Fukuyama ist viel kritisiert und belächelt worden, aber er ist eigentlich auch viel interessanter, als viele Menschen glauben, und er führt eine wesentlich feinere Klinge. Und er selbst glaubte, dass dieses Ende der Geschichte eine sehr traurige Zeit sein würde, wenn Menschen sich nicht mehr für Ideen einsetzen, sondern nur noch Zahlen ansehen und auf Statistiken schauen. Es war nicht so, dass Fukuyama den Triumph verkündete nur, sondern er versuchte, das auch wissenschaftlich darzulegen. Er glaubte, dass der Liberalismus siegen würde. Er ist aber natürlich die Frage schuldig geblieben: Was heißt denn eigentlich liberal, was ist eigentlich Freiheit? Denn Freiheit, wie wir alle wissen, ist nicht neutral, Freiheit ist immer eine Frage der Abwägung. Und das heißt, es können sich natürlich unendlich viele Konzeptionen von Freiheit ergeben und wie man die schafft in einem Staat. Das hat Fukuyama längst auch gesehen. Also, Fukuyama ist nicht einfach der erzkonservative oder neokonservative Naivling, auf dem man herumhauen kann, er ist wesentlich interessanter. Aber ob das die Absage ist an den Historismus oder an eine Art Determinismus der Geschichte, das heißt also, dass alles zwangsläufig so gehen muss, das glaube ich eigentlich nicht. Vielleicht im Gegenteil, es ist ja - letztendlich steht er da in einem großen Schatten, der aus Deutschland geworfen wird, nämlich dem Schatten von Hegel, wie so viele in der Philosophie zwischen Hegel und heute. Und Hegel hat ja diese Idee formuliert, dass die Geschichte, wie er sagte, sich selbst realisiert, dass sie also zwingend auf ein ideales Ende zugeht. Und wie dubios diese Vision ist, das kann man schon daran sehen, dass für Hegel im Prinzip das Ende der Geschichte, also der Idealzustand der Menschheit fast magisch zusammenfiel mit dem norddeutschen Protestantismus. Und es ist natürlich eine atemberaubend provinzielle Vision der Geschichte, die nicht zulässt, dass andere Kulturen, dass andere Geschichten, dass andere Werte irgendeinen Wert haben, sondern magischerweise ist es eben die eigene Kultur, die eigene Geschichte, die die einzig valide ist, die die einzig wertvolle ist. Es ist ein bisschen so, wie man nie einen Rassisten trifft, der herausgefunden hat, dass er zur zweit- oder drittwertvollsten Menschengruppe gehört.

Köhler: Ich bin froh, dass Sie so früh schon darauf zu sprechen kommen, weil ich mit Ihnen im zweiten Teil gerne dieses geschichtsphilosophische Problem noch mal erörtern möchte, dass es eben nicht so etwas wie eine datierbare Formation gibt, ein Ziel und Ende der Geschichte, die Freiheit aller - so wurde das pathetisch zu Hegels Zeiten gedacht -, denn das hat Fukuyama ja auch schon früh gedämmert, da gibt es eben durchaus noch andere. Beispielsweise, er dachte an die Islamische Republik Iran, die nun weiß Gott nichts mit liberalen westlichen Demokratien im Sinn hatte. Lassen Sie mich doch mit Ihnen noch ein paar Probleme erörtern: Da gibt es die Teilstaatenwünsche nach '89, da gibt es die Balkankriege, da gibt es das große Problem der Renationalisierung, da gibt es völkerrechtswidrige Kriege... Also, die westliche Wertegemeinschaft ist nun nicht so homogen und attraktiv, wie man da immer meinen könnte. Kurz gesagt: Könnte es nicht sein - das ist meine Vermutung, wenn ich mir so angucke, was an neuen Ressentiments ja auch gewachsen ist in Europa, also Homophobie, Rechtspopulismus und so weiter, Angst vor Wohlstandsverlusten -, dass nach dem Fall der äußeren Mauer vielleicht eine Art innere Mauer entstanden ist, also so etwas wie destruktive Kräfte sich gehalten haben?

"Denken des freien Marktes reduziert die Freiheiten von Menschen"

Blom: Na, ich meine, wie sollte es denn anders sein? Gesellschaften sind über Jahrhunderte gewachsen, tragen ihre eigenen Erfahrungen mit sich. Und das wird ja nicht über Nacht weggewischt. Und wie weit es mit der westlichen Wertegemeinschaft her ist, das sehen Sie ja am Beispiel der syrischen Flüchtlinge, wo viele der Menschen gerade auch, die selber schlimme Erfahrungen gemacht haben, sagen, nein, die nicht, das ist mir zu viel. Das heißt, Sie sehen es an dem jämmerlichen Herumlavieren der europäischen Staaten, dass diese Wertegemeinschaft, die wir immer wieder so beschwören, letztendlich, wenn es darauf ankommt, ganz schnell zerbröselt.

Köhler: Gibt es nicht noch einen weiteren Aspekt, den Sie zu Beginn genannt haben, also einerseits die liberalen Verfassungen, andererseits aber auch der fast schon krankhafte Glaube an den Kapitalismus, oder etwas anders gesagt an den Marktmissionarismus? Denn wir erleben ja, dass er nicht mehr Freiheit und gleichere Bedingungen gebracht hat, sondern in weiten Teilen der Erde Ungleichheit!

Blom: Das ist etwas, wovon Fukuyama auch gesagt hat, dass er das so nicht vorausgesehen hat. Denn Fukuyama ging davon aus, es würden liberale Demokratien jetzt entstehen. Und er hat damals mit etwas, sagen wir, gewollter Blindheit Amerika als eine solche liberale Demokratie bezeichnet. Aber die Tatsache, dass natürlich viel dem Markt untergeordnet wird, dass man, um eine liberale Demokratie zu haben, auch Menschen Möglichkeiten geben muss, sich überhaupt zu entfalten, und dass man deswegen zum Beispiel so etwas Fürchterliches wie Umverteilung unternehmen muss, das ist natürlich in Amerika wesentlich weniger passiert als in Europa. Und vieles ist eben dem Markt unterworfen worden, er hat das schon so ein bisschen vorausgesehen, als er gesagt hat, wir werden alle zu Erbsenzählern werden, die sich nicht mehr für Ideale interessieren. Nun ist es ja so, dieses Denken des freien Marktes, des freien und unbehinderten Marktes, das, was man so ein bisschen unexakt den Neoliberalismus nennt, weil er weder neu ist noch liberal, dieses Denken reduziert eben die Freiheiten von Menschen ganz erheblich, indem es alles auf Markteffizienz reduziert. Es ist auch ein seltsam religiöses Denken, das viele Dinge einfach annimmt.

"Wir handeln nicht rational"

Köhler: Ja, sehr gut. Es ist kein neuer Gedanke, dass in der Geschichtsphilosophie des 18. Jahrhunderts, der Fortschrittsgläubigkeit, des Sich-Entfaltens, der Vernunft und der Freiheit, der sich entäußernden Geschichte, dass darin auch ein Stück weit Geschichtstheologie steckt, also die Säkularisierung und Emanzipation sicherlich auch ein Stück weltliches Heilsdenken beinhaltet. Ist das nicht aber fast schon häretischer Gedanke, indem man die Geschichtsphilosophie, also das Zusteuern auf ein erlösendes Ziel der Geschichte hin glaubt anzunehmen? Denn alles, was wir erleben, ist ja streckenweise das Gegenteil!

Blom: Es ist nicht häretisch, aber es ist sicherlich gegenfaktisch. Denn wie Sie sagen, das, was wir erleben, ist eben, dass Menschen reagieren nicht als rationale Entitäten, die sich in ihrem eigenen, objektiven, besten Interesse verhalten. Das sehen Sie schon am Wahlverhalten von Menschen, wo sehr arme Menschen oft für sehr aggressiv, auch wirtschaftsliberale Parteien wählen. Und es ist nicht so, dass sie davon persönlich einen Nutzen ziehen würden, sondern es ist eher so, dass sie sich selber lieber als die Menschen sehen, die von so einer Partei einen Nutzen ziehen, das heißt, die Menschen, die selber Chancen haben, die Menschen, die selber was zu sagen haben. Wir handeln nicht rational. Und wir haben erlebt in der Welt, dass eben viele Menschen sich als Verlierer der Geschichte betrachtet haben nach 1989, dass sie geglaubt haben und noch glauben, dass der Westen in einem neokolonialen Projekt versucht, den Rest der Welt zu beherrschen, und dass man dagegen etwas aufbauen muss. Und da fängt die Geschichte dann eben wieder an, auch wenn sie vielleicht im Rückwärtsgang anfängt. Ich meine, was der IS tut, das heißt, ein völlig synthetisches, völlig unislamisches Reich im Namen des Islam zu schaffen, das keine Geschichte kennt, das übrigens auch keine muslimische Tradition kennt. Das heißt, all die Auslegungen des Koran, die in den Jahrhunderten der muslimischen Tradition entstanden sind, werden davon nicht anerkannt, also, es ist wirklich Geschichte im Rückwärtsgang. Aber es ist natürlich auch ein dezidiert antiwestliches Projekt von Menschen, die sich von der Vorherrschaft des Westens gedemütigt fühlen.

"Ein Ende der Geschichte kann es gar nicht geben"

Köhler: Unterm Strich: Die These vom Ende der Geschichte ist nicht der Beginn der flächendeckenden Erlösung?

Blom: Es ist nicht der Beginn der flächendeckenden Lösung, das hätte Fukuyama auch nie behauptet. Wie gesagt, so dumm und so eindimensional ist er nie gewesen. Er kam stark aus der neokonservativen Ecke in Amerika, aber er selbst hat darüber hinausgedacht, hat als junger Mann dieses Buch geschrieben und hat aber weitergedacht an diesem Thema und hat natürlich auch gesehen, dass erstens die Geschichte global nicht aufgehört hat, sondern im Gegenteil sich eigentlich eher angeheizt hat und leider auch nicht nur metaphorisch aufheizt, sondern dass auch in Amerika eben nicht die liberale Gesellschaft entstanden ist, von der er glaubte, dass sie entstehen müsste, sondern eigentlich eine ganz knallharte Marktoligarchie entstanden ist. Das heißt, die Gesellschaft, von der Fukuyama glaubte, sie müsste entstehen, ist nicht entstanden, und wir kommen zurück eben zu der Frage, wie definiert man eigentlich Freiheit? Und das ist eine Frage, da verrate ich Ihnen ein kleines Geheimnis, die kann man nicht objektiv beantworten, diese Frage, die kann man nur immer weiter diskutieren. Man kann nur immer weiter versuchen, anzupassen und neu zu verhandeln und Kompromisse zu machen, und irgendwie versuchen, das Beste für die meisten Menschen herauszuholen. Aber die Rahmenbedingungen davon ändern sich so stark, und auch das, was Menschen mitbringen aus ihrer historischen Erfahrung, aus ihren religiösen Traditionen, aus der rezenten Geschichte - denken Sie an Deutschland und den Zweiten Weltkrieg, und wie das auch das Wertesystem der Deutschen dramatisch geprägt hat, im Gegensatz zu anderen Ländern -, das heißt also, wie wir unsere Werte definieren, kann man nicht ein für alle Mal objektiv feststellen und dann danach alles richten, sondern es ist ein immer weitergehender Prozess. Und darin liegt natürlich auch schon die Tatsache, dass es eben so ein Ende der Geschichte gar nicht geben kann.

Was die 1920er Jahre mit den nächsten 10 Jahren zu tun haben

29.12.2019

Kurier – 29.12.2019 – Susanne Mauthner-Weber

Warum Historiker Philipp Blom denkt, dass wir 30 Jahre "time out" bräuchten, und was das mit Klimawandel, Demokratie-Krise und Erdöl zu tun hat.

„Dass die Jungen zornig auf uns sind, kann ich persönlich nachvollziehen. Die  berühmte Frage der Enkel an ihre Nazi-Großeltern wird uns auch gestellt werden: ,Warum habt ihr damals nicht mehr getan?'“. Fragt man den renommierten Historiker Philipp Blom dieser Tage nach 1920 und 2020 spricht er viel über den Klimawandel: „Das ist nun mal das bestimmende Problem unserer Zeit“, sagt er im Interview mit dem KURIER.

KURIER: In drei Tagen beginnt das neue Jahr und allerorten hört man, von Parallelen 1920 – 2020. Wie sehen Sie das?

Philipp Blom: Ich glaube, darüber denken die meisten Menschen gerade nach. Über die Unverständlichkeit unserer Zeit, wie uns Strukturen zu entgleiten, und um uns herum zu zerbröckeln scheinen. Aber ich wäre mit dem direkten Vergleich vorsichtig. Wobei dieselben Faktoren, die 1920 wichtig waren, auch heute wichtig sind. Es ist eine Fortführung derselben Geschichte: Unsere immer stärker technologisch bestimmte Gesellschaft – Stichwort Digitalisierung und Globalisierung – beschleunigt sich immer weiter, und wir kommen damit eigentlich gar nicht zurecht. Es ist zu schnell für uns. Wir bräuchten jetzt mal 30 Jahre „time out“ von der Geschichte, um zu absorbieren und zu verstehen, was eigentlich los ist.

Ist das möglicherweise eher das Problem älterer Semester? Kommen die Digital Natives besser mit dem Tempo zurecht?

Da muss man unterscheiden. Wenn man jünger ist, ist man normalerweise von Grund auf optimistischer. Wobei es im Moment auch sehr viele pessimistische junge Menschen gibt – gerade was den Klimawandel betrifft. Natürlich: Digital Natives sind mit Computern aufgewachsen, das bedeutet aber nicht, dass sie verstehen, wie die Strukturen unserer Zeit aussehen und was sich in der Zukunft als wichtig erweisen wird.

Wir vergessen immer wieder, dass wir Primaten sind, die genauso wie alle anderen Tiere eine gewisse Kapazität haben – kognitiv und emotional. Und wenn sie chronisch überfordert sind, dann werden Tiere ängstlich und aggressiv. Sie wissen nicht mehr, wie sie mit ihrer Umwelt interagieren sollen. Wir haben keine unendliche Kapazität, unendlich viel aufzunehmen, zu verarbeiten und zu verstehen.

Muss jeder selbst damit fertig werden oder gibt es auch einen politischen Auftrag?

Man muss es sicher versuchen, besonders mit Erziehung. Jeder Mensch hat das Recht auf seine eigene Meinung, aber nicht auf seine eigenen Fakten. Wie man Fake von Fakten unterscheidet, kann man lernen. Wenn man aber keiner Wissensautorität mehr traut, wird es sehr schwierig.Übrigens trauen Menschen Wissensautoritäten aus gutem Grund nicht. Weil Autorität sehr oft missbraucht wird.

Aber gerade Historiker wissen doch am besten, dass das immer so war.

Ja, Macht ist immer missbraucht worden, Menschen sind gierig und machtgeil, das hat sich nicht geändert. Mit der Demokratie hat sich vieles zum Positiven gewendet, weil sie Politiker dazu zwingt, zuzuhören, was der Rest der Bevölkerung will. Schließlich wollen sie ja wiedergewählt werden. Das ist wichtig und verhindert blutige Revolutionen. Es macht aber auch Probleme, denn eine Kompromiss-Maschine wie die Demokratie, verlangsamt Entscheidungen. Daher ist es in Zeiten des Klima-Notstands sehr schwierig, entscheidende Maßnahmen zu treffen.

Das bringt mich auf ein objektiver Unterschied zu früher: In vergangene Zeitaltern hatten die dummen, gierigen und gemeinen Menschen nicht die Möglichkeit, ihr eigenes Habitat zu zerstören. Oder eben nur im 10-Kilometer-Umkreis. Jetzt schon: Wir haben so viel technologische Reichweite, dass wir eine realistische Chance haben, unser eigene Lebensgrundlage zu zerstören.

Wie steht es 2020 um die Lagerkämpfe rechts gegen links? Erinnert auch an 1920...
... die Unterschiede zu 1920 sind viel größer als die Parallelen. 1920 gab es Demokratie inÖsterreichseit einem Jahr; inDeutschlandseit zwei Jahren, wenn man großzügig ist. Wenn damals in den europäischen Ländern Misstrauen gegen die Demokratie herrschte, richtete sie sich gegen ein System, das die Menschen noch nicht kannten. Sie konnten dem noch nicht trauen, weil es keine gelebte Realität war.

Das heißt, man bekommt die Demokratie heute nicht so leicht weg?

Das hoffe ich. Aber Demokratie im vollen Sinne gibt es in vielen Ländern erst seit der Nachkriegszeit. Sie ist ein junges und zerbrechliches Phänomen, das seine Entstehung auch dem Erdöl-Boom verdankt.

Wie das?

Der enorme Wachstums- und Reichtumsschub der Nachkriegszeit hat viel zu tun mit dem Anstieg an Produktivität, der wiederum viel mit Erdöl zu tun hat – mit Maschinen, die damit laufen, höherer Mobilität ... Demokratien kosten viel Geld – ein parlamentarisches System, Justizapparat,Polizei– all das kostet. Und das Geld war in der Nachkriegszeit da – dank Erdöl. Das bringt uns in eine Zwickmühle, der wir uns bewusst werden müssen: Wenn wir etwas gegen die Klimakatastrophe tun wollen, müssen wir das System beenden, in dem Wirtschaften dazu verdammt sind zu wachsen. Denn bisher bedeutete das, dass wir von Jahr zu Jahr mehr fossile Brennstoffe gebraucht haben, um dieses Wachstum möglich zu machen. Von der Wachstumsgesellschaft wegzugehen, damit wir denKlimawandelkontrollieren können und alles gut wird, ist aber zu simpel gedacht. Da gibt es Kollateral-Gefahren: Es wären weniger Mittel vorhanden, um etwas so kostenintensives wie eine Demokratie aufrecht zu erhalten.

Mit dem Erdöl steht und fällt also alles?

Unsere Gesellschaften sind Junkies mit einer großen Spritze im Arm. Wir müssen die Entzugserscheinungen überstehen.

Geht es uns zu gut?

Wir haben keinen Clash of Civilizations, sondern einen Clash of Emotions. Und wenn wir so weit simplifizieren wollen, dass je nach Region eine Leit-Emotion übrig bleibt, dann haben wir Optimismus inAsien, weil es da enorm aufwärts geht und Millionen Menschen aus der Armut befreit worden sind. Wir haben Demütigung in der islamischen Welt und damit auch Zorn, und wir haben Angst in der westlichen Welt. Wir leben auf einem sehr hohen Niveau, aber immer stärker prekär. In Österreich noch nicht so sehr wie in vielen anderen westlichen Ländern. In denUSAlanden sie, wenn sie einmal Pech haben, auf der Straße. Sie schlafen dann in ihremAutohaben aber kein Geld mehr für Benzin.

Wir definieren uns über das, was wir kaufen, wohin wir in Urlaub fahren, was wir tragen, welcheElektronikwir haben – wir können uns all das nur so lange leisten, solange wir Geld, einen Job haben. Das teilt die Gesellschaft – in diejenigen, die mitspielen können und jene, die es nicht können. Letztere haben für sich beschlossen, dass sie von dieser Demokratie nicht repräsentiert werden.
Ich kann Rechtsaußen-Wähler verstehen – ich kann ihre Emotionen verstehen, dass sie sich allein gelassen fühlen. Es gibt Menschen, die sind eingefroren in dem, was sie tun, und haben keine Chance, sich ihre eigene Würde wieder zu erarbeiten. Das ist auch moralisch eine sehr schwierige Situation.

Historiker sind ja prädestiniert, durch den Blick in die Vergangenheit etwas über die Gegenwart aussagen zu können. Gibt  es in der Vergangenheit Lösungsansätze?

Es gibt in der Geschichte die sogenannten Rauchende-Trümmer-Theorie, die sagt, dass Menschen erst dann bereit sind, etwas anders zu machen, wenn sie vor den rauchenden Trümmern stehen. leider hat diese Idee viel für sich. Aber ich glaube, dass wir uns das diesmal nicht leisten können.

Derzeit herrscht bei viele die Hoffnung, dass wir das mit dem Klimawandel durch verbesserte Technologie schon irgendwie in den Griff bekommen werden...

... ein ziemlich gefährliches Spiel. Technologie wird wahrscheinlich Antworten finden, aber wird das rechtzeitig sein? Was wird das kosten? Ja, es ist ein unbequemer Gedanke für uns Menschen: Wir stehen nicht über der Natur. Wir sind Teil von ihr, Teil eines immensen, multidimensionalen Mobiles. Und wenn sich ein Teil bewegt, bewegen sich ganze Konstellationen mit. Wir sind alle verbunden – mit anderen Menschen, Lebewesen. Zu glauben, dass man irgendwas tun kann, ohne unabsehbare Konsequenzen, zu denken, wir könnten so weiterleben und weiterkonsumieren und wir werden schon eine Technologie finden, die uns das ermöglicht, das scheint mir ein sehr gefährlicher Gedanke zu sein. Sie fragen mich nach 1920 und ich spreche überKlimawandel, das ist nun mal das bestimmende Problem unserer Zeit. Und es schafft Angst und schädigt Demokratien weiter. Vielleicht ist unsere größte Hoffnung, dass das Klima in den nächsten Jahren so brutale Kapriolen schlägt, dass es der Blödste begreift. Und vielleicht könnten wir da im Vorbeigehen bessere Gesellschaften schaffen, die stärker solidarisch ist.

1920 war durch eine überbordende Lebensfreude gekennzeichnet ...

... ja, das könnte eine interessante Parallele sein. Da gab es zwei Phasen: Die Freude derjenigen, die überlebt haben. Später wurde eine zynische Lebensfreude daraus. Motto: „Wer weiß, was morgen ist, jetzt haben wir es noch gut.“ Heute sehe ich das „Wer weiß, was morgen ist“ nicht so oft, sondern eher Verleugnung. Dass die Jungen zornig auf uns sind, kann ich persönlich nachvollziehen. Die berühmte Frage der Enkel an ihre Nazi-Großeltern, die wird uns auch gestellt werden: „Warum habt ihr damals nicht mehr getan?“

Damit wir nicht in Katastrophenszenarien untergehen. Gibt es etwas, was ihnen Hoffnung macht?

Dass wir nicht genau wissen können, wie die Zukunft aussieht. Ich nenne ein  Beispiel: Sie sind unsterblich verliebt. Das Allerdümmste, was sie tun können, ist zu googeln, wie das weitergeht. Da lesen sie von miesem Sex, Kindern, die sie verrückt machen, Scheidungen. Sie denken: Um Gottes Wille, warum soll ich mir das antun. Doch das Seltsame ist: Nur weil sie die Entscheidung treffen – für mich wir es aber anders – schaffen sie die Möglichkeit, dass es für sie auch wirklich anders wird. Ich  glaube, diese kontrafaktische Entscheidung müssen wir treffen: Alle Statistiken zeigen uns, dass es nicht gut gehen kann, aber wir haben die Chance zu sagen: Wir können es schaffen. Uns nicht nur anzupassen, sondern eine bessere Gesellschaft zu schaffen.  

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Musikgespräch - SWR2 - Philipp Blom

23.2.2022

Treffpunkt Klassik extra - SWR 2 - 23.02.2022 - Gregor Papsch

"Geigen haben Gesichter wie Menschen" sagt Philipp Blom. Der Historiker und Schriftsteller hat erfolgreiche Sachbücher wie "Der taumelnde Kontinent" über die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg geschrieben. Was viele nicht wissen: der Sohn zweier Musiker ist selbst passionierter Geiger.

Vor einigen Jahren hat er sich auf die Spuren seines rund 300 Jahre alten Instruments begeben, über das kaum etwas bekannt war, um mehr über dessen Herkunft und Geschichte zu erfahren. Herausgekommen ist nun ein Buch, gleichermaßen Hommage an das Geigenbauer-Handwerk wie persönliche Liebeserklärung an die Musik.

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Dies sind sehr kritische Momente in unserer Geschichte

5.2.2017

Philipp Blom im Gespräch mit Michael Köhler / 05.02.2017 - Deutschlandfunk

Der Historiker Philipp Blom sieht die Welt nach der Wahl Donald Trumps in einer schwierigen Phase, die zu großen Krisen führen könnte. "Der Satz 'Ach, das kann nie passieren' sollte aus unserem Vokabular gestrichen werden", sagte Blom im Deutschlandfunk. "Alles kann passieren."

Auch Hitler sei dramatisch unterschätzt worden, sagte Blom. "Man hat gesagt: Mit dem wird ein Staat schon fertig, und der wird sowieso bald weg sein. Wir wissen, das ist nicht so gewesen."

Zwar sei Trump nicht mit Hitler vergleichbar, da Trump kein genozidaler Massenmörder sei. Außerdem verschleiße sich der Begriff von Faschismus, wenn er vorschnell verwendet werde. "Aber ich möchte es nicht verharmlosen. Dies sind sehr kritische Momente in unserer Geschichte", sagte Blom.

Vor allem könnte eine weitere Finanzkrise die Welt vor große Probleme stellen, sagte Blome. "Dann wäre es möglich, dass ganz Europa und die USA eine gigantische Weimarer Republik bilden - in der wirklich schreckliche Dinge passieren könnten."

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